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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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tausend, spielt keine Rolle; dafür lohnt es sich zu sterben. Wie hätte man leben können im anderen Land, im vollen Bewusstsein, dass man etwas hätte unternehmen können, dass man einen Unterschied machen konnte? Ja wie?
     
    Obwohl man Antun und dessen Bewegungen folgt, bleibt man irgendwann hängen und fällt der Länge nach hin. Man verbiegt sich die Finger der linken Hand und der Schmerz ist so stark, dass die Gedanken augenblicklich wieder im Hier und Jetzt sind. Man rappelt sich schleunigst auf, antwortet mit »okay«, als der Hintermann fragt, ob’s geht, und statt über den Tod nachzudenken, überlegt man sich, ob man es eventuell lebendig aus dieser Mission schaffen könnte und wie man das anstellen müsste. Auf jeden Fall ist man dieses Mal besser ausgerüstet als bei der letzten Aufklärungsmission, die zu einem Desaster wurde, und man hofft, dass sich die bessere Ausrüstung positiv auf die Verteidigungsfähigkeit der Gruppe auswirken wird. Aber die Gruppe ist so verdammt klein. Wie soll man überhaupt unentdeckt an den Stellungen vorbeikommen, die weit vor der Stadt postiert sind? Und an den verdammten Hunden? Die machen einem mehr Angst als die Soldaten, merkt man gerade, und es tut einem im Herzen weh, dass der Krieg nicht nur den Blick aufs Leben verändern wird, sondern auch noch dieses kleine idyllische Verhältnis, das man aus späten Kindheitstagen bis ins junge Erwachsenenalter hat rüberretten können: Hunde waren immer Freunde, Spielgefährten, Kameraden. Jetzt sind sie plötzlich schlimmer als Minen: Auf eine Mine tritt man entweder drauf und sie zerfetzt einen, oder man hat Glück und setzt den Fuß einen halben Meter weiter links oder rechts auf und überlebt. Bei einem scharf abgerichteten Hund machen ein paar Zentimeter weiter links oder rechts keinen Unterschied; riecht er einen – und das tut er, egal, ob man sich zehn oder fünfzig Meter weit von ihm entfernt befindet –, wird er nicht einfach darauf warten, dass man den Fehler |210| macht und ihm auf den Schwanz oder die Pfoten tritt; er wird sich auf einen stürzen und einem die Kehle aufreißen. Verglichen damit ist es geradezu human, von einer Granate zerfetzt zu werden; der Körper hat sich in blutige Fetzen verwandelt, bevor die Neuronen dem Gehirn diesbezüglich Informationen hätten übermitteln können.
    Es geht bergauf und bergab und langsam entspannt man sich und lässt sich auf den monotonen Rhythmus ein, auf den Herz und Beine sich geeinigt haben, und irgendwann raunt man Antun zu, ob man einen Schluck Schnaps haben könne, und er greift in seine Hosentasche und zieht die Flasche hervor und reicht sie einem, ohne dabei seinen Schritt zu verlangsamen oder sich umzudrehen. Man nimmt einen großen Schluck, verstöpselt sie wieder und gibt sie Antun zurück, der sie wieder an die alte Stelle steckt. »Pass ein wenig mit dem Zeug auf«, sagt Darko hinter einem. Man nickt nur, ebenfalls ohne sich umzudrehen. Man weiß, dass sie größer, schwerer und viel besser an Alkohol gewöhnt sind, aber es tut einem gut, sich ein wenig zu betäuben, man hat auch so noch genügend Angst, mit dem Schnaps. »Macht zittrige Finger, das Zeug«, sagt Darko, »und das können wir nicht gebrauchen, wenn wir unseren Job erledigen wollen, Junge.« – »Alles klar«, sagt man und wird in Ruhe gelassen.
    Junge genannt zu werden, stört einen nicht. Alle außer Marina sind mindestens zehn Jahre älter. Langsam fragt man sich, was sie in dieser Truppe von Hünen verloren hat. Eigentlich ist man hier ja selber irgendwie fehl am Platze, aber diese zierliche, junge Frau? Wer weiß, vielleicht kann sie besser schießen als die anderen. Nur offenbar nicht besser als man selbst – was einem immer noch ein Rätsel ist. Es ist noch keine drei Tage her, dass man zum ersten Mal eine Pistole in der Hand gehalten hat und darüber erschrocken ist, wie sie einem das Handgelenk gestaucht und den Unterarm hochgerissen hat, als man sie abfeuerte. Oder wie einem der Kolben des Gewehres, mit dem man aus der Ruine auf die Feinde am Waldrand |211| und auf der Wiese geschossen hat, beinahe die Schulter weggerissen und das früher mal bei einem Sportunfall gebrochene Schlüsselbein nochmals gespalten hätte.
    Seltsame Gedanken, während man durch den Wald geht: Marinas Gesicht neben dem der Freundin, die man jetzt, mit Marina im Herz, guten Gewissens Exfreundin nennt; und die Sicherheit und Klarheit darüber, dass die Ex in der Schweiz von den Eltern erfahren hat, dass

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