Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
Wände stehen, und man setzt sich zur Gruppe, um sich auszuruhen. Wie es in der Scheune aussehen mag, fragt man sich, und was aus Boros Leiche geworden ist. Vermutlich ist von Boros Körper und den anderen Leichen nicht viel mehr übriggeblieben als von der Scheune.
    »Da, Freund«, sagt Antun. »Trink! Trink, solange du noch kannst.«

|197| PREKO
    Als Martin erwachte, war es im Zimmer stockfinster. Nach einer Weile dämmerte ihm, wo er war, und er versuchte aufzustehen. Dehydriert stolperte er ins Bad.
    Nach dem ersten Schluck aus dem Wasserhahn wurde ihm klar, dass ihm nicht nach Wasser, sondern nach etwas Stärkerem war; er wusch sein Gesicht – was gar nicht so einfach war mit einem großen Pflaster auf der Wange, das möglichst nicht nass werden sollte –, er zog sich an, verließ das Zimmer, schloss ab und steckte den Messingblock mit dem Zimmerschlüssel in die Lederjacke.
    An der Rezeption erwartete ihn das unfreundliche Gesicht eines jungen Angestellten. Martin ignorierte ihn und ging hinaus in die kalte Nacht.
    Das Quartier, in dem sich das Hotel befand, war ein buntes: Durchmischt, was die Hautfarben und die Leute betraf, von Drogen dealenden Schwarzen bis zum verkoksten Werbefritzen und Banker, der sich noch ein Gramm für den nächsten Morgen auftreiben musste, lungerte so ziemlich alles in den Straßen herum, was nicht schlafen konnte und auf Vergnügen aus war – ein Quartier, das Martin über die Jahre genauso ans Herz gewachsen wie verhasst geworden war.
    Jetzt, nach einem halben Jahr am Meer, sah es um einiges anders aus, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Es war düsterer, weniger lebendig, weniger farbenfroh, bewegt und fröhlich.
    Diese Wahrnehmung konnte natürlich an Martins grundlegend schlechter Stimmung liegen, vielleicht entsprang sie aber auch nur dem Umstand, dass es kalt war und sich nur die Leute draußen rumtrieben, die unbedingt mussten, weil sie dringend was zu besorgen hatten. So wie Martin.
    Er entschied sich für die Kneipe eines Bekannten, eine Musikerbar, die, ausgekleidet in dunkelrotem Plüsch und verziert mit tropischen |198| Kultfiguren, auf den ersten Blick mehr einem Puff glich als einer Bar, aber hatte man sich erst mal an den Tresen gesetzt, wurde einem schnell und unmissverständlich klar, dass man sich am richtigen Ort befand, wenn man aggressive Musik und harte Drinks wollte: Die Musik war laut und an der Grenze zu Lärm, und die Flaschen, hinter denen man sich im Spiegel verzerrt erkennen konnte, kamen aus allen Winkeln der Welt – ihr Inhalt war ebenso hart wie die Musik und die Barkeeper, die schon manche Alkoholleiche vor die Tür hatten schleppen müssen oder selbst rausgeschleppt werden mussten.
    Martin bestellte einen doppelten Whisky, einen Lagavulin, immer gut für den Einstieg, und ein kleines Glas Wasser dazu. Er gab einen Schuss Wasser in den Whisky, schwenkte das Glas zwei, drei Mal langsam und schüttete den durch das Wasser zu ganzem Aroma entfalteten Whisky mit einem großen Schluck in sich hinein.
    »Noch mal dasselbe, bitte«, bestellte er bei der kleinen, zierlichen, tätowierten Kellnerin mit jeder Menge Metall im Gesicht; sie füllte sein Glas wortlos – großzügig und ohne Messglas: Martin war hier Stammkunde. Und wenn jemand nach einem halben Jahr Abwesenheit immer noch als Stammkunde behandelt wird, dann
ist
er Stammkunde.
    »Danke«, sagte er.
    Sie nickte nur, mit einem Blick, in dem eine Spur Mitleid mitschwang, und Martin wusste auch, weshalb und woher der Blick: Es war ihm klar, dass man ihm den Verlassenen auf Meilen ansah, aber er hatte sich daran gewöhnt, dass Frauen, die ihn üblicherweise angeflirtet hätten, ihn in letzter Zeit eher ignorierten. Doch es war ihm auch egal. Und das spürten die Frauen auch. Gegen den Wind.
    Sein Leben belastete ihn schon zu sehr, um sich auch noch mit Weibern und ihren mitleidigen Blicken und dem Abschied von einem Land zu belasten, das ihm trotz seiner Annäherungsversuche nie Heimat oder Zuhause gewesen war und ihn nie vollständig |199| akzeptieren wollte. Nein danke, dann schon lieber Lagavulin und Mitleid. Die klassische Tragödie des Secondos. Fucking pathetic.
    »Der Stuhl noch frei?«
    Martin drehte sich um und vor ihm stand ein guter Bekannter namens Andreas. Martin bemühte ein Lächeln, während Andreas sich unaufgefordert neben ihn setzte und Martin auf die Schulter klopfte.
    »Na, Alter, wie geht’s?«, fragte er.
    Martin zog die Schultern hoch. Er hatte keine Ahnung.

Weitere Kostenlose Bücher