Drift
gefühlt hat, hat sich Marko mit den Offizieren besprochen und kommt mit ernstem Gesichtsausdruck zur Gruppe zurück. »Herhören!«, befiehlt er und die kleine Gruppe sammelt sich um ihn.
»Wir gehen sofort los. Der Bauernhof ist in unserer Hand, wir werden also laufen und uns dort eine halbe Stunde ausruhen. Dann geht’s weiter. Los, Aufbruch.«
Bis zum Waldrand und die ersten zehn, zwanzig Meter geht die Gruppe. Dann ruft Marko, der vorausgeht »Laufschritt!« und läuft los. Man rennt los, findet nach einer Weile trotz des Gewehrs und des Gewichts der Munition in einen Rhythmus, und obwohl man anfangs denkt, dass man dieses Tempo nicht lange wird halten können, rennt man mit, ohne Schwierigkeiten mit der Atmung oder Seitenstechen zu bekommen. Vermutlich der Schnaps, denkt man. Aber noch wahrscheinlicher liegt es am Adrenalin, das mit jedem Schritt in die Dunkelheit des Waldes und auf den Bauernhof und den mit Leichen übersäten Hügel zu in größeren und größeren Mengen ausgestoßen wird und einen einerseits schmerzlos, andererseits |195| euphorisch und hellwach macht; man könnte sich an diese Droge gewöhnen, denkt man und fragt sich, ob es nicht genau daran liegt, dass Soldaten, die aus Kriegen zurückkehren in Depressionen fallen: Adrenalin- und Endorphinentzug.
Man hängt wirren Gedanken nach, träumt, während man durch den Wald rennt, hinter Antun und vor Josko her. Irgendwann, man hat überhaupt kein Zeitgefühl mehr, bleibt Antun stehen und man prallt gegen ihn. Erst da bemerkt man, wo man sich befindet: am Waldrand, oben am Hügel. Unten das Bauernhaus. Aber es sieht anders aus, die Scheune auch. Man braucht einen Moment, bis man kapiert: Aus den gestern noch mehr oder weniger intakten Gebäuden sind Ruinen geworden. Tagsüber, während man geschlafen hat, müssen hier heftige Kämpfe stattgefunden haben. Und offenbar waren es die Landsleute, die siegreich daraus hervorgegangen sind.
Trotzdem ist es ein seltsames Gefühl, wieder an den Schauplatz von Boros, Tomos und Nadas Tod zurückgekehrt zu sein, und man sucht instinktiv nach den Überbleibseln von Nadas Körper auf dem Hang, aber da ist nichts mehr: Die Soldaten müssen die Leichen, oder was von ihnen übriggeblieben ist, mitgenommen haben. Man dreht sich zu Josko um, der, seinen Atem beruhigend, neben einem steht, und fragt ihn, ob es ein Begräbnis geben wird. Josko schaut einen an, sieht dann zu Boden. »Ich denke schon. Aber wir werden vermutlich nicht dabei sein.«
Wie er das gemeint hat und ob man nicht da sein wird, weil man irgendwo am Kämpfen oder weil man selbst tot ist, möchte man fragen, lässt es dann aber sein. Man wollte hierhin, man wollte in diesen Krieg, erinnert man sich, und ob man umkommen wird oder nicht, spielt keine Rolle, darf keine Rolle spielen; je weniger man daran denkt, redet man sich ein, desto größer die Chance, zu überleben. Und wenn man draufgeht, hat es so sein müssen. Fertig. Tomo hat das gewusst, Boro und Nada wussten es ebenfalls. Warum sollte es einem besser ergehen als den dreien? Und überhaupt, vielleicht sind sie die Glücklichen, die schon in den ersten Tagen des |196| Krieges von ihm erlöst wurden – wer weiß schon, was man noch alles erleben und mitansehen wird müssen.
»Okay«, sagt Marko und sieht jeden von uns kurz an. »Gehen wir runter.« Er dreht sich um und marschiert los; erst jetzt, während man den Hügel runterstolpert, merkt man, wie viel Kraft einen das Laufen gekostet hat: Die Knie und Oberschenkel zittern bei jedem Schritt, man muss sich konzentrieren, um nicht einzuknicken. Die Löcher, die die Granaten hinterlassen haben, sind besonders schlimm: Man stolpert ein paar Mal, kann sich gerade noch fangen, aber ungefähr nach der Hälfte schlägt man der Länge nach hin. »Verdammte Scheiße«, flucht man und will sich gerade hochrappeln, als einen schon jemand an der Weste packt und hochzieht. Man kommt auf die Beine und sieht, dass es Antun ist. Fast so ein Hüne wie Boro, hat es ihn kaum Kraft gekostet, einem hochzuhelfen. »Komm, wir haben’s gleich geschafft. Dann ruhen wir uns einen Moment lang aus. Und nehmen noch einen Schluck hiervon«, sagt er und klopft auf die Tasche an seinem Oberschenkel, aus der ein Flaschenhals mit Korken ragt. Man lächelt und nickt. Davon könne man gut was gebrauchen, sagt man.
»Wer nicht, Alter, wer nicht«, sagt Antun.
Beim Bauernhaus angekommen, verschwindet Marko im Zelt neben der zerbombten Scheune, von der nur noch zwei
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