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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Patrone aus der Schachtel und schaut sie sich genauer an. »Geht durch Westen wie durch Butter«, sagt Josko. Die Spitze der Kugel ist dunkelrot, als habe sie sich in Vorbereitung auf ihre Aufgabe schon mal vorsorglich mit Blut vollgesaugt. Man verstaut |207| die Munition im Gürtel. Betretenes Schweigen senkt sich auf die Gruppe. Man hält Darko die Hand hin und er gibt einem die Flasche. Man nimmt einen großen Schluck und gibt sie an Antun weiter. Auch er bleibt stumm und trinkt. »Wir schaffen das«, sagt Marko in die Stille hinein und alle nicken, um sich Mut zuzusprechen. »Ja«, sagt Antun und sieht Marko an, »wir schaffen das.« Marko wirft ihm den Korken für die Flasche zu und lächelt. Antun nickt, stöpselt den Korken in den Flaschenhals, steckt die Flasche in die Hosentasche am Oberschenkel und steht zusammen mit Marko auf. »Na los, Freunde«, sagt Marko mit einer Lockerheit, die Hoffnung darauf verbreitet, dass man die Mission vielleicht überleben könnte, »da warten ein paar Offiziere auf uns!« Blicke machen die Runde, in den versteinerten Gesichtern blitzen plötzlich Zähne, und wer noch sitzt, erhebt sich; der Wahnsinn packt die Gruppe wie ein Tornado, und in den grinsenden Gesichtern steht »Fuck it!« geschrieben, verflucht, denkt man, gehen wir, und man ruft es laut in die Runde: »Gehen wir!« – und Antun grinst und sagt: »Nun hör sich einen diesen kleinen Scheißer an!« – und alle stimmen mit ein: »Gehen wir!«
     
    Eine Viertelstunde später kämpft man gegen die Angst an, die langsam stärker und stärker wird; ohne Versicherungen und aufmunternde Worte der Mitsoldaten hat man sich aufgemacht, an der zerbombten Scheune vorbei in den Wald hinein, auf ein Gebiet zu, in dem es vor Serben nur so wimmeln wird und wo mit ziemlicher Sicherheit der Tod auf einen wartet.
    Im vom Mondlicht kaum erhellten Wald die Augen auf Antuns Rucksack gerichtet, versucht man Antuns Bewegungen zu folgen; schaut er nach unten, macht man das ebenfalls und hebt die Füße etwas höher, um nicht über Wurzeln zu stolpern, bückt er sich, bückt man sich auch und nimmt die Arme hoch und schützt das Gesicht gegen Äste. Nach einer Weile geschieht alles wie von selbst und der Kopf ist frei und die Gedanken beginnen, in einem Ozean von wirren Bildern und konfusen Gefühlen zu schwimmen, und |208| man wird mitgerissen, aufs offene Meer hinaus, kein Land in Sicht, nur Welle auf Welle von Vorahnungen und der Versuch, sich vor Augen zu führen, was einen jetzt erwartet: Kein Schießen auf Soldaten, die ebenfalls versuchen, einen zu erschießen, keine eigentliche Selbstverteidigung, kein Kampf Gegnergegengegner – das Eliminieren, Liquidieren von Offizieren hat etwas von einer Exekution, man ist Teil eines Exekutionskommandos und man weiß nicht so recht, was mit dem Gedanken anfangen.
    Wird man zum Mörder, wenn man Mörder umbringt, ohne direkt bedroht zu werden? Nein, sagt eine Stimme und man ist froh darum: Sie versichert einem, dass es in Ordnung ist, wenn man andere Menschen dadurch retten kann, und dass es eine rein utilitaristische Handlung ist und man sogar stolz darauf sein muss. Geht man bei der Aktion selber drauf, sinniert man weiter und versteigt sich in Folklore, wird man zum Helden, der das Leben von Tausenden Menschen gerettet hat, indem er einen Mörder exekutiert und den Feind, wenn auch nur vorübergehend, gestoppt und am weiteren, planmäßigen Vorrücken gehindert hat. Jubelnde Menschenmengen und Tausende Fähnchen, inmitten der Masse ein Gesicht im Fadenkreuz, ein leises Klick beim Entsichern, dann explodiert das Gesicht und Blut spritzt meterweit: Krieg hat nichts Romantisches und das eigene Sterben noch weniger; die Eltern und die Brüder werden leiden, das erreicht man mit seinem Tod in erster Linie, und man erwartet das trauernde Gesicht der Freundin, die man ohnehin nicht mehr geliebt hat, aber es will sich nicht zeigen, und man sucht in der Herzgegend und findet Marina anstelle der Freundin, und die Stelle, wo man Marina findet, ist nicht nahe am Herzen, sondern mittendrin, gleich neben der Familie, und man weiß nicht, wann genau das geschehen ist, aber man wird es herausfinden und man wird die Gefühle leben, aber dazu muss man zunächst überleben – was man nach Meinung der meisten Kameraden in der Gruppe nicht tun wird.
    Egal, denkt man, es hat sich gelohnt zu leben und zu sterben, |209| wenn man das Leben für etwas Sinnvolles hergibt. Und ob man ein Menschenleben rettet oder

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