Drift
gestiegen war, konnte er keine Spur entdecken, weder von dem Seidentuch noch von dem Mädchen. Martin verstand nicht. Das konnte nicht sein. Er hatte keine zehn, zwanzig Sekunden gebraucht von der Stelle, an der er ihr zugesehen hatte, wie sie im Meer abtauchte, bis hierher, wo er jetzt stand; sie konnte unmöglich in dieser kurzen Zeit irgendwo um die Ecke geschwommen sein – und windig genug war es auch nicht, dass das Seidentuch weggeweht worden wäre. Martin wurde schwindlig. Er suchte die Meeresoberfläche ab, irgendwann musste sie ja wieder hochkommen, sollte sie getaucht sein, und als nach einer Minute immer noch keine Spur von ihr zu sehen war, begann er sich ernsthaft Sorgen zu machen und nach dem Seidentuch zu suchen, und je |221| fieberhafter er suchte, desto panischer wurde er: War hier soeben ein Unfall passiert? Wenn ja, dann müsste das Seidentuch irgendwo sein. Aber da war nichts. Weder das Tuch noch das Mädchen. Ihm schwindelte. Er stieg über die Felsen und Klippen zum Waldrand hoch und kämpfte sich durchs Dickicht, spürte aber die Dornen und die Äste nicht, die ihm das Gesicht zerkratzten. Beim Rucksack angekommen, trank er den Rest des Biers, das er hingeworfen hatte, öffnete ein zweites und setzte sich.
Er versuchte, die Szene von vorhin zu rekonstruieren.
Irgendetwas stimmte nicht. Nicht nur war es nicht möglich, dass jemand einfach so verschwand, da gab es noch andere Faktoren, die nicht stimmten. Das Mädchen. Irgendetwas an dem Mädchen kam ihm vertraut vor. Viel zu vertraut. Er wusste nicht, was genau es war. Die Figur? Das Haar? Ihre Bewegungen? Wie sie Fuß vor Fuß setzte? Oder war es das »Kleid«? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das war Helena! Nicht die Helena, die er kannte, aber Helena! Garantiert und zu 100 Prozent: eine jüngere Helena zwar, das junge Fräulein auf den Fotos, die ihm Helenas Mutter und Vater gezeigt hatten; das rote Haar, die Figur – und jetzt sah er auch das Gesicht des Mädchens im Boot des Barkajols deutlich vor sich; es war zwar Nacht gewesen, fast kein Licht, außer den Reflexionen des Mondes im Meer und das bisschen, das von den Laternen auf der Stadtmauer herüberleuchtete, aber das schlanke Gesicht, die Augen, ihr Hals und ihre Schultern – kein Zweifel: Helena! Aber dann ein noch irritierenderer Gedanke: Moment mal – sie hatte Kroatisch mit ihm gesprochen, mit beiden, mit ihm und dem Barkajol! Martin klemmte das Bier zwischen seine Oberschenkel und rieb sich die Schläfen. Um Himmels willen, er war drauf und dran, den Verstand zu verlieren!
Er musste runter von dieser Insel. Sofort. Zurück in die Stadt, den Barkajol finden. Hier auf Skolj war er vor Jahren mit Helena Baden gewesen – und jetzt hatte er sie sich eingebildet, sie halluziniert. Nicht gut, gar nicht gut.
|222| Martin erinnerte sich daran, wie toll Helena damals – es war ihr erster Besuch in Dalmatien – die Insel gefunden hatte. Wie sie die Ruhe und die Gemächlichkeit der Inselbewohner gleichzeitig bestaunt und bewundert hatte. Und wie sie die alten, teils renovierten, teils leerstehenden Steingebäude in Gedanken zu ihrem gemeinsamen Haus umbaute, dem Traumheim, in dem sie ihr gemeinsames Leben verbringen und ihre Kinder großziehen würden, wo sie an ihren Architekturplänen und Design-Projekten und er an seinen Büchern arbeiten würde, weit weg von der oberflächlichen, hektischen Welt, eins mit dem Treiben des kleinen Ortes, eins mit der kleinen Insel, und Martin bemerkte, als er mit Tränen in den Augen ein drittes Bier öffnete, wie das Relief der Baumrinde Abdrücke in seinem Rücken hinterließ, und realisierte, dass die Abdrücke, die die gemeinsame Vergangenheit mit Helena in seiner Seele hinterlassen hatte, im Gegensatz zu denen auf dem Rücken nie verschwinden würden. Er trank das Bier leer, dann das nächste, und schließlich, damit die Tränen, die ihm ununterbrochen über die Wangen liefen, seinen brennenden Körper und seine rissige Seele nicht ganz austrockneten, auch noch die Flasche Weißwein.
|223| ERDLOCH
Wie wörtlich Einbuddeln gemeint war, hätte man nicht gedacht: tief, komplett unter die Erde. Und weil nicht jeder in der Gruppe eine Schaufel hatte, wechselte man sich ab; sobald der eine nicht mehr konnte und seine Bewegungen langsam und fahrig wurden, sprang jemand anders ein und machte sich an die Arbeit. Als man selbst an der Reihe war, hatte die Wirkung des Alkohols schon lange nachgelassen und man spürte jeden
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