Drift
einzelnen Knochen und jede Muskelfaser. Aber man schaufelte, Markos Anweisungen folgend, einen Graben von etwa einem Meter Tiefe und gut zwei Metern Länge. Wer nicht schaufelte, schnitt Astwerk zurecht, mit dem man die Schlafstätten überdecken würde.
»Nützt das wirklich etwas?«, fragte man Josko, der an der Grube neben einem buddelte. »Kommt drauf an«, sagte er. »Wenn jemand in fünfzig Metern Entfernung vorbeigeht, sieht er nichts. Wenn er sich auf fünf, zehn Meter nähert, ist es die Frage, ob er nach so etwas sucht. Wenn ja, dann ist’s vorbei. Dann schießt er auf die Grube und du wirst direkt in deinem Grab erschossen.« – »Dann hoffen wir mal, dass keiner so nahe vorbeigeht«, sagt man und Josko nickt. Es ist schon beinahe hell und man sieht ihm seine Erschöpfung an. »Es geht aber auch um Mörser«, sagt er. »Solange du unter der Erde bist, erwischen dich Splitter nicht.« Ob man Stolperdrähte mit Minen oder Granaten anbringen werde, fragt man und es ist Tomo, der die Frage beantwortet, als er einem die Schaufel aus den Händen reißt, weil man ihm offenbar zu langsam schaufelt. »Nein, machen wir nicht. Wenn jemand reinlaufen sollte, so erwischen wir vielleicht einen oder zwei, aber durch den Lärm haben wir sie dann alle am Hals. Wir schieben Wache, dort auf dem Baum, siehst du?« Er zeigt auf einen Baum in etwa zwanzig Metern Entfernung, der viele dicke Äste auf relativ geringer Höhe hat, die eine Art Nest bilden und wo man sich gut installieren kann. Marina ist gerade damit beschäftigt, ein Seil festzubinden.
|224| »Wer übernimmt die erste Wache?«, will man wissen. »Marina«, kommt die Antwort von hinten und Antun drückt einem ein paar Äste und eine Rolle Schnur in die Hand. »Da, bind das so zusammen, dass es einen Deckel gibt, mit dem du dein Loch zudecken kannst.« – »Okay«, sagt man, nimmt das Geäst, sucht sich einen Baum neben Tomos Loch aus und lehnt sich im Schneidersitz dagegen. Es dauert länger, als man gedacht hat, und während man die Äste zusammenbindet, schaut man seinen Kameraden zu, die schweigend ihrer Arbeit nachgehen. Bald schon wird es hell sein und man muss sich beeilen und unter die Erde kommen.
Marina hat das mit Knoten versehene Seil festgebunden und Marko hängt sich mit seinem gesamten Gewicht daran, um zu testen, ob der Knoten auch hält. »Okay«, sagt er und will wissen, ob sie wirklich die erste Wache halten will. Marina nickt nur und zieht das Seil zu sich hoch. Sie rollt es zusammen und stopft es sich als Polsterung hinters Kreuz. Sonderlich bequem sieht ihre Stellung auf dem Baum nicht aus und sie probiert es anders, mal mit dem einen Bein angezogen, mal mit dem anderen, aber schließlich scheint sie eine Position gefunden zu haben, in der sie es ein paar Stunden ertragen wird.
Man bindet den letzten, dicht verästelten Ast an die anderen, die bereits eine Fläche von über einem Quadratmeter ergeben, als sich Marko vor einen stellt. »Sieht gut aus«, sagt er. »Wie sieht’s bei dir mit Schlafen aus?«, will er wissen und man fragt, was er damit meint. »Ob du schnell einschlafen kannst.« Man zuckt mit den Schultern, weiß keine Antwort. »Gut«, sagt er, »hör zu: Du übernimmst die zweite Wache, dann hast du nachher genug Zeit, dich auszuschlafen. Du nützt niemandem, wenn du morgen die Augen nicht offenhalten kannst.« Man nickt. »Jede Wache dauert eineinhalb Stunden. Zeig deine Uhr. Wie spät ist es?« Man sieht nach, es ist kurz vor fünf. »Marina wird dich um halb sieben wecken. Du weckst Darko um Punkt neun.« Man nickt erneut und Marko will sich schon umdrehen, um zu gehen. »Noch was«, sagt er und |225| richtet warnend den Zeigefinger auf einen. »Keine Zigaretten. Weder oben auf dem Baum noch unten im Bau. Und wenn du scheißen musst, verbuddelst du den Haufen so, dass man nichts sehen oder riechen kann.«
Man ist fertig mit der Astdecke und blickt mehr zufällig als bewusst zum Baum, auf dem sich Marina installiert hat: Ihr Blick ist auf einen gerichtet und, wie man ihrem Gesichtsausdruck zu entnehmen glaubt, nicht erst seit gerade eben. Ihre Augen sind traurig, die Lippen zusammengepresst, es scheint, als würde sie die Tränen zurückhalten. Man erwidert ihren Blick. Ob sie an Nada denkt? An ihre Familie? Man weiß es nicht. Man weiß nur, dass es einem beinahe das Herz zerreißt, sie so zu sehen. Als man aufsteht, um zu ihr zu gehen, wendet sie ihr Gesicht ab, sieht nach links, in die Richtung, aus der die
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