Drift
Gruppe gekommen ist. Also trägt man die zusammengebundenen Äste zum eigenen Loch, legt sie drauf und sieht, dass noch ein paar Äste fehlen, um die Grube ganz zuzudecken. Man raunt Antun, der gerade dabei ist, es sich in seinem Loch bequem zu machen, zu, man gehe noch ein paar Äste holen und er zeigt, in welcher Richtung man dichtes Geäst finden wird. Man entfernt sich vom Lager. Aber statt später mit dem Geäst beladen direkt zur eigenen Grube zurückzukehren, stattet man Marina einen Besuch ab. Man lehnt sich gegen den Baumstamm, während man die Äste zusammenbindet.
»Wie geht es dir?«, fragt man und wartet auf eine Antwort. Als man nach einer Weile keine bekommen hat, macht man einen Schritt zurück und sieht hoch. Marina starrt einen an, einen merkwürdigen Ausdruck in den Augen. »Marina?«, fragt man und kann dieses Mal die Sorge in der Stimme nicht verbergen. »Was ist mit dir?«
Den Blick immer noch unverwandt auf einen gerichtet, rollt ihr jetzt deutlich sichtbar eine Träne über die Wange, aber sie kümmert sich nicht darum, wischt sie nicht weg, und man verflucht die Distanz |226| zwischen ihr und einem selbst und die Tatsache, dass man ihr die Träne nicht wegwischen oder wegküssen kann. Man sagt ihr, sie solle runterkommen und man werde auch ihre Wache übernehmen, kein Problem. Aber sie schüttelt nur langsam den Kopf, die wässrigen Augen immer noch auf einen gerichtet. »Geh schlafen«, sagt sie und wendet sich ab, sieht in die Baumwipfel, durch die jeden Moment die ersten Sonnenstrahlen dringen werden. Man kennt sie zwar noch nicht gut beziehungsweise noch gar nicht, aber man weiß, dass es keinen Sinn hat, weiterzubohren; sie wird kein Wort mehr mit einem wechseln. Also bindet man die neuen Äste mit dem bereits bestehenden Deckel zusammen und stellt erleichtert fest, dass es jetzt für das ganze Loch reicht. Man hört ein Geräusch hinter sich und es ist Josko, der sich neben einem hinkauert und einem die Hand auf die Schulter legt. »Versuch zu schlafen«, sagt er und man nickt stumm. »Du weißt, wen du wecken musst?« »Darko«, sagt man. »Gut«, antwortet Josko. Man hockt sich hin und er setzt sich ebenfalls.
»Was?«, will er wissen. »Marina«, sagt man – »Lass sie einfach.« Man nickt. »Du verstehst nicht«, fährt er fort, »Nada war ihre beste Freundin. Sie kannten sich seit dem Kindergarten.« – »Leben ihre Eltern noch?«, fragt man und Josko schüttelt den Kopf. »Nein. Und von ihrem Bruder weiß man nichts. Könnte tot sein oder in Gefangenschaft geraten. Und jetzt noch Nada.«
Man schweigt, versucht, sich in Marinas Situation zu versetzen. Eltern tot, Bruder verschollen, beste Freundin tot. »Sie macht sich Sorgen um dich«, sagt Josko, nachdem beide eine Weile geschwiegen haben. Man schaut auf und sieht ihn überrascht an. »Was?« »Du hast mich schon verstanden. Sie macht sich Sorgen um dich.« Man will sich keine Blöße geben und sagt: »Alle machen sich Sorgen um alle. Schließlich haben wir gerade erst Boro, Tomo und Nada verloren. Es könnte jederzeit jeden von uns erwischen.« Josko lächelt gutmütig, aber auch mit einer Spur List in den Augen. »Klar machen wir uns alle Sorgen um alle. Aber sie macht sich genauso |227| ein bisschen mehr Sorgen um dich, wie du dir ein bisschen mehr Sorgen um sie machst als um mich oder die anderen.« Man öffnet den Mund, findet aber keine Worte, um Josko zu widersprechen; alles, womit man die große Zuneigung zu Marina hätte bestreiten wollen, wäre eine einzige Lüge gewesen. Also versucht man ein Lächeln und Josko drückt einem die Schulter. »Hör zu, Kleiner. Ich habe Boro und Tomo geliebt wie Brüder und Nada wie eine Schwester. Und jetzt sind sie tot und es gibt nichts, was ich daran ändern könnte. Aber es gibt etwas, was mich schneller genau dorthin bringen wird, wo sie jetzt sind.« Man schaut ihn fragend an, weiß nicht, was er meint. »Wut und Hass, die von zu viel Schmerz kommen. Hasse, so viel du willst, aber hasse kalt, hasse mit deinem Verstand. Lass dein Herz da raus.« – »Warum?«, fragt man, weil man nicht sicher ist, ob man verstanden hat. »Weil dein Herz alles daransetzen wird, dem Schmerz ein Ende zu bereiten und dich zu deinen Geliebten zu bringen.« Man lässt den Kopf hängen. Man spürt, dass er recht hat. »Heißt das«, fragt man, »dass wir uns jetzt noch mehr Sorgen um Marina machen müssen?«
Josko schüttelt den Kopf und antwortet, während er Marina betrachtet, die, das Gewehr an
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