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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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hinüber. »Dann gehe ich mal besser wieder. Wir werden uns wohl heute
Abend bei der Vernissage nicht sehen.«
    »Vermutlich nicht, aber was Ihre Mutter
macht, gefällt mir gut«, sagte ich. »Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen.«
    Sie lächelte und winkte mir im
Rückwärtsgehen zu, ehe sie sich umwandte und zur Galerie zurückmarschierte.
    Ich stieg in mein Auto und blieb erst
einmal reglos sitzen. Mir war schwer ums Herz. Tippy war ein nettes Mädchen.
Ich hätte ihr so gerne erspart, was sie jetzt durchstehen musste. Letzten Endes
würde sie es schaffen, da war ich zuversichtlich, aber mir war nicht gerade wohl
dabei, sie in diese ganze Qual gestürzt zu haben. Natürlich konnte ich mir
sagen, dass sie es sich selbst eingebrockt hatte, aber die Wahrheit war, dass
sie immerhin sechs Jahre lang einen Weg gefunden hatte, damit zu leben. Ich
konnte nur vermuten, dass Reue und Gewissensbisse sie geplagt hatten.
Vielleicht gab es ja einfach keinen anderen Weg, als öffentlich Sühne zu
leisten. Aber im Moment saß ich erst einmal da mit meinen Gefühlen. Ich konnte
nicht noch mehr wütende Menschen verkraften. Ich hatte die Nase voll von
Vorwürfen, Drohungen und Einschüchterungsversuchen. Mein Job war es,
herauszufinden, was Sache war, und genau das würde ich tun.
    Ich ließ den VW an, jagte ihn auf
Touren und wendete verkehrswidrig. Eine Ecke weiter war ein Drugstore. Ich hielt
auf dem winzigen Vorplatz und flitzte hinein, um drei Packen Karteikarten zu
erstehen — einer weiß, einer grün und der dritte orange. Dann fuhr ich nach
Hause. Ich hatte immer noch einen Stapel Akten aus Morleys Büro in meinem
Wagen. Ich fand einen Parkplatz gleich gegenüber meiner Wohnung. Ich raffte
zusammen, was auf dem Rücksitz lag, und schwankte durchs Gartentor, bepackt wie
ein Maulesel. Ich schleppte alles nach hinten in den Hof und fummelte meinen
Schlüssel heraus.
    In dem verglasten Verbindungsgang
zwischen Henrys Haus und meinem konnte ich die kleine Lunchgesellschaft sehen.
Die Dezembersonne war nur schwach, aber durch das viele Glas speicherte der
Wintergarten die Wärme wie ein Treibhaus. William und Rosie steckten die Köpfe
zusammen und waren offenbar in ein angeregtes Gespräch vertieft. Vermutlich
ging es um Perikarditis, Kolitis oder die Gefahren der Laktose-Intoleranz.
Henrys Gesicht war düster, und ich hätte schwören können, dass er schmollte — ein
Verhalten, das dem Henry, den ich kannte, äußerst wenig ähnlich sah. Ich
quetschte die Akten mit der Hüfte gegen den Türrahmen, während ich meine
Wohnung aufschloss. Drinnen warf ich alles auf die Küchenbar. Ich drehte mich
um und sah Henry hinter mir hereinkommen, in der Hand einen voll gehäuften
Teller — Zitronenhuhn, Ratatouille, grünen Salat und selbst gebackene Brötchen.
    »Hi, wie geht’s? Ist das für mich?
Sieht ja toll aus. Na, wie stehen die Aktien?«
    Er setzte den Teller auf der Küchenbar
ab. »Es ist nicht zu fassen«, sagte er.
    »Was ist? Hat Rosie noch keinen Weg
gefunden, William ein bisschen aufzumöbeln?«
    Henry kniff die Augen zusammen und
tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sehr witzige Frage. Endlich
dämmert es mir. Wissen Sie, was sie macht? Sie flirtet mit ihm!«
    »Rosie flirtet doch immer.«
    »Aber William flirtet zurück.« Er zog
eine Küchenschublade auf, nahm ein Messer und eine Gabel heraus und reichte sie
mir, zusammen mit einer Papierserviette.
    »Aber da ist doch nichts dabei«, sagte
ich. Dann sah ich sein Gesicht. »Oder doch?«
    »Sie essen, ich rede. Was ist, wenn
etwas Ernsthaftes daraus wird? Was stellen Sie sich vor, was dann passiert?«
    »Ach, hören Sie auf. Die beiden kennen
sich einen Tag.« Ich kostete zuerst ein Brötchen — butterzart.
    »Er bleibt zwei Wochen hier. Ich mag gar
nicht daran denken, wie das die nächsten dreizehn Tage weitergehen wird, bei
dem Tempo, das die beiden vorlegen«, sagte er.
    »Sie sind eifersüchtig.«
    »Ich bin gar nicht eifersüchtig. Ich
fürchte Schlimmes. Heute Morgen war er noch ganz normal. Hat einen Riesenheckmeck
um seinen Stuhlgang gemacht. Und zwei Mal seinen Blutdruck gemessen. Er hatte
irgendwelche mysteriösen Symptome, die ihn eine Stunde lang beschäftigt haben.
Dann sind wir zu der Trauerfeier gegangen, und da wirkte er immer noch normal.
Wir sind heimgekommen, und er musste sich erst einmal eine Weile hinlegen. Ganz
der alte William. Kein Problem, damit kann ich umgehen. Ich habe das
Mittagessen gekocht, und dann erschien Rosie mit

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