Dringernder Verdacht
Untergrund für einen tätowierten Drachen. Irgendjemand
musste Curtis wohl erzählt haben, er habe seelenvolle Augen, denn er schien
wild entschlossen, mir tief und bedeutungsvoll in die meinen zu sehen. Er war
glatt rasiert, mit einem unschuldigen Gesicht (für einen verurteilten
Straftäter). Sein Haar war schlecht geschnitten, was nicht weiter verwunderlich
war, da er ja seit Monaten im Gefängnis saß. Aber ich konnte mir nicht
vorstellen, dass er selbst unter optimalen Umständen regelmäßig zum Schneiden
und Föhnen einen Friseur aufsuchte.
Ich stellte mich vor und erklärte den Zweck
meines Hierseins, nämlich, eine schriftliche Aussage von ihm zu bekommen.
»Soweit ich Mr. Shines Aufzeichnungen entnehmen konnte, haben Sie David Barney
in der ersten Nacht nach seiner Verhaftung in einer Zelle kennen gelernt.«
»Sind Sie allein?«
Ich sah hinter mich. »Wer, ich?«
Er lächelte die Sorte Fächeln, die man
vor dem Spiegel üben muss, und bohrte seinen Blick in meine Augen. »Sie haben
mich schon verstanden.«
»Was hat das damit zu tun?«
Seine Stimme nahm jenen für streunende
Hunde und Frauen reservierten sanften Gut-Zurede-Ton an. »Ach, kommen Sie.
Sagen Sie’s mir. Ich bin ein netter Kerl.«
Ich sagte: »Ich bezweifle nicht, dass
Sie ein netter Mensch sind, aber das geht Sie nichts an.«
Das belustigte ihn. »Wieso haben Sie
Angst, es zu sagen? Finden Sie mich attraktiv? Ich finde Sie nämlich
attraktiv.«
»Hm, Sie sind sehr offen, und ich weiß
das zu schätzen, Curtis. Aber, äh, könnten Sie mir jetzt vielleicht von Ihrer
Bekanntschaft mit David Barney erzählen?«
Er lächelte schwach. »Immer hübsch sachlich.
Das gefällt mir. Sie nehmen sich selbst ernst.«
»Stimmt. Und ich hoffe, Sie nehmen mich
auch ernst.«
Er räusperte sich und schlug einen
nüchternen Ton an, sichtlich bemüht, einen guten Eindruck zu machen. »Wir waren
in einer Zelle, er und ich. Er ist an einem Dienstag verhaftet worden, und wir
sind erst am Mittwochnachmittag vor den Richter gekommen. Schien ganz nett, der
Typ. Als sein Prozess anfing, war ich gerade draußen. Also hab ich mir gedacht,
ich setz mich rein und guck mir an, was da läuft.«
»Haben Sie beide nach seiner Verhaftung
über den Mord gesprochen?«
»Nee, nicht richtig. Er war ziemlich
fertig. Konnte ich auch verstehen. Die Frau erschossen, ins Auge, hässliche
Sache. Ich frag mich, wer so was tut«, sagte er. »Aber wie’s scheint, war er’s
ja wohl selbst.«
»Worüber haben Sie geredet?«
»Ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Er
hat gefragt, wieso ich hier drin sei und solche Sachen und was ich glaube, was
für einen Richter wir bei der Anklagevernehmung am nächsten Tag kriegen würden.
Ich hab ihm einen Schnellkurs gegeben, welche Richter gemein sind, und das sind
die meisten. Na ja, der eine Typ ist locker, aber die anderen sind ganz schön
scharf.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Und das war für Sie Grund genug, sich
den ganzen Prozess anzuhören?«
»Nicht den ganzen. Haben Sie sich schon
mal einen ganzen Prozess angehört? Todlangweilig, was? Ich bin froh, dass ich
kein Rechtsanwalt bin.«
»Das glaube ich.« Ich überflog meine
Notizen. »Ich habe die Aussage gelesen, die Mr. Kingman —«
»Sind Sie allein?«
»Das haben Sie mich schon mal gefragt.«
»Ich wette, Sie sind’s. Wollen Sie
wissen, woher ich das weiß?« Er klopfte sich gegen die Schläfe. »Ich kann
hellsehen.«
»Nun, dann können Sie mir
wahrscheinlich auch sagen, was ich Sie als Nächstes fragen werde.«
Er grinste errötend. »Nicht ganz. So
gut kenn ich Sie nicht, aber ich würd’s gern.«
»Vielleicht reicht Ihre Intuition ja
aus, um mir ein paar Fragen zu beantworten.«
»Ich will’s gern versuchen. Werd mich
bemühen. Schießen Sie los. Ich bin ganz Ohr.« Sein Gesicht wurde ernst.
»Erzählen Sie mir noch mal, was er zu
Ihnen gesagt hat, nachdem der Freispruch verkündet worden war.«
»Also... Moment mal. Wie er rauskommt,
sagt er so was wie... >Hey, Mann. Wie geht’s? Was sagen Sie dazu? Sehen Sie
jetzt, wieso sich ein teurer Anwalt lohnt?< Und ich sage: >Klar, Mann.
Spitze. Ich hab nie geglaubt, dass Sie’s gewesen sind.< Da grinst er über
sein ganzes Arsch- ’tschuldigung — über beide Backen. Er beugt sich dicht an
mich ran und sagt: >Ha, ha, die haben wir ganz schön reingelegt.<«
Das schien mir ein äußerst
unglaubwürdiger Dialog. Ich kannte David Barney nicht, aber ich konnte mir
nicht vorstellen, dass er so redete.
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