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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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und
eine Lampe mit einem dicken blauen Keramikfuß und einer Sechzig-Watt-Birne, die
meine Höhle auf tropische Temperaturen aufheizte. Hier pflegte ich auf dem
Rücken zu liegen und endlos Bilderbücher zu lesen. Meine Lieblingsgeschichte
handelte von einem Mädchen, das einen winzigen Däumling namens Twig entdeckte,
der in einer umgestülpten Tomatensaft-Dose lebte. Fantasien innerhalb der
Fantasie. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich geweint hätte. Vier Monate
lang fraß ich mich durch meine aus der Bücherei geliehenen Bücher, ein kleines,
geschlossenes System, dazu geschaffen, mit der Trauer fertig zu werden. Ich aß
Käse- und Gürkchen-Sandwichs, wie sie meine Mutter gemacht hatte. Ich machte
sie selbst, weil sie ganz richtig sein mussten. Manchmal nahm ich statt Käse
Erdnussbutter, und das war gut. Meine Tante ging ihren eigenen Beschäftigungen
nach und ließ mich ungestört meine Gefühle durcharbeiten. Meine Eltern starben
am Memorial Day, Ende Mai. Im Herbst kam ich in die Schule...
    »Sind Sie Kinsey?«
    Ich drehte mich um und sah die Frau an,
als erwachte ich aus tiefem Schlaf. »Die bin ich. Und Sie sind wohl Simone?«
    »Genau. Freut mich.« Sie hatte eine
Gartenschere in der einen Hand und in der anderen einen flachen Korb voller
frisch geschnittener Blumen, den sie jetzt absetzte. Sie lächelte kurz, während
sie mir die Hand hinstreckte. Ich schätzte sie auf Ende dreißig bis Anfang
vierzig. Sie war etwas kleiner als ich, breitschultrig und untersetzt, was sie
jedoch durch ihre Kleidung geschickt kaschierte. Ihr Haar war rötlich-blond, an
den Wurzeln eine winzige Nuance dunkler, schulterlang geschnitten und dauergewellt.
Ihr Gesicht war breit, der Mund ebenfalls. Die Augen unscheinbar-blau, mit
getuschten Wimpern und feinen, rötlichen Brauen. Sie trug ein Ensemble in einem
geometrischen Schwarzweiß-Muster: eine Jacke aus Waschseide über einer langen,
schwarzen Tunika und einen weiten Rock, der bis auf die schwarzen
Wildlederstiefel reichte. Sie hatte kurze, stumpfe Finger und farblos lackierte
Nägel. Sie trug keinen Schmuck und kaum Make-up. Ich merkte erst jetzt, dass
sie sich auf einen Stock stützte. Ich sah zu, wie sie ihn von der einen Hand in
die andere nahm. Sie suchte einen festen Stand und verlagerte einen Teil ihres
Gewichts auf den Stock, während sie sich herunterbeugte, um den Korb zu ihren
Füßen aufzunehmen.
    »Die müssen ins Wasser. Kommen Sie
rein.« Sie öffnete den unteren Teil der Tür, und ich folgte ihr.
    Ich sagte: »Tut mir Leid, dass ich Sie
noch mal mit der Sache belästigen muss. Ich weiß, dass Sie vor ein paar Monaten
mit Morley Shine gesprochen haben. Ich nehme an, Sie haben gehört, dass er tot
ist.«
    »Ich habe heute Morgen den Nachruf in
der Zeitung gelesen. Ich habe sofort bei Lonnie angerufen, und er meinte, Sie
würden sich bei mir melden.« Sie ging hinüber zu der kleinen, gekachelten
Küchentheke, die gleichzeitig als Arbeitsfläche und, im Verbund mit den beiden
darunter verstauten Hockern, als Frühstücksbar diente. Sie hängte den Stock
über die Kante, nahm einen durchsichtigen Glaskrug aus dem Schrank und füllte
ihn mit Leitungswasser. Sie bündelte die Blumen zu einem hübschen Strauß,
steckte ihn in die improvisierte Vase, stellte dann das ganze Arrangement auf
die Fensterbank und trocknete sich die Hände an einem Handtuch.
    »Setzen Sie sich doch«, sagte sie. Sie
zog den einen Hocker hervor und ließ sich darauf nieder, während ich mir den
anderen nahm. »Ich werde mich bemühen, Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch
zu nehmen«, sagte ich.
    »Hören Sie, wenn es dazu beiträgt, dass
dieser Scheißkerl überführt wird, können Sie meine Zeit so lange in Anspruch
nehmen, wie Sie wollen.«
    »Ist das nicht ein bisschen ungemütlich,
so auf demselben Grundstück zusammenzuleben, nur ein paar Hundert Meter
auseinander?«
    »Das will ich hoffen«, sagte sie. Die
tiefe Bitterkeit in ihrer Stimme schien sich sogar auf die Tonhöhe auszuwirken.
Sie sah zu dem großen Haus hinüber. »Wenn es für mich ungemütlich ist, können
Sie sich vorstellen, wie es erst für ihn sein muss. Ich weiß, es treibt ihm die
Galle hoch, dass ich mich nicht vertreiben lasse. Nichts würde er lieber tun,
als mich zu zwingen, von hier zu verschwinden.«
    »Kann er das?«
    »Nicht, solange ich noch ein Wörtchen
mitzureden habe. Izzy hat mir das Häuschen vererbt. Das stand in ihrem
Testament. Sie und Kenneth haben das Anwesen vor vielen Jahren gekauft.

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