Dringernder Verdacht
der
Akten auf meinem Schreibtisch, während das Telefon bei ihr klingelte. Wo sollte
ich einen Zeugen hernehmen, der David Barney etwas anhängen konnte? Lonnie war
ein Witzbold, aber andererseits — das wäre wirklich ein Coup. Das vierte
Klingeln... das fünfte. Ich wollte gerade einhängen, als sich am anderen Ende
abrupt jemand meldete. »Ja?«
»Oh, hi. Hier ist Kinsey Millhone.
Könnte ich bitte mit Rhe Parsons sprechen?«
»Am Apparat. Wer ist dran?«
»Kinsey Millhone. Ich habe Ihnen eine
Nachricht...«
»Ach ja, richtig«, fiel sie mir ins
Wort. »Wegen Isabelle.«
»Ich wende mich an Sie, weil ich weiß,
dass Sie vor ein paar Wochen mit Morley Shine gesprochen haben.«
»Mit wem?«
»Dem Privatdetektiv, der die Sache
bearbeitet hat. Leider ist er an einem Herz...«
»Ich habe nie mit irgendjemandem über
Isabelle geredet.«
»Sie haben nicht mit Morley gesprochen?
Er arbeitete für einen Anwalt, der Kenneth Voigt in seinem Prozess vertritt.«
»Ich weiß von nichts.«
»Tut mir Leid. Dann war das wohl eine
Fehlinformation. Vielleicht sollte ich Ihnen einfach erklären, worum es geht«,
sagte ich. Ich setzte ihr kurz auseinander, was es mit dem Prozess auf sich
hatte und was mein Job bei der Sache war. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihre
Zeit nicht länger in Anspruch nehmen als unbedingt nötig, aber ich würde mich
gern kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Ich bin völlig gestresst. Sie hätten
wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt erwischen können«, sagte sie. »Ich bin
Bildhauerin und habe in zwei Tagen eine Ausstellung. Dafür geht im Moment jede
freie Minute drauf.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee oder einem
Gläschen Wein irgendwann später am Tag? Von mir aus ruhig nach Feierabend. Ich
kann mich ganz nach Ihnen richten.«
»Aber muss es denn heute sein? Hat das
nicht bis nächste Woche Zeit?«
»Der Gerichtstermin ist bald.« Andere
Leute haben auch zu tun, dachte ich.
»Hören Sie, ich will ja nicht gemein
sein, aber sie ist seit sechs Jahren tot. Was immer mit David Barney passiert —
es macht sie auch nicht wieder lebendig. Was hat das denn für einen Sinn?«
Ich sagte: »Wenn man genau hinsieht,
hat überhaupt nichts Sinn. Wir könnten uns alle gegenseitig das Gehirn aus dem Schädel
pusten, aber wir tun es nicht. Natürlich bringt es sie nicht wieder zurück,
aber sinnlos muss es deswegen noch lange nicht sein.«
Schweigen. Ich wusste, sie wollte
nicht, und es widerstrebte mir, sie zu drängen, aber es musste sein.
Tatsächlich, sie rührte sich, unwillig,
aber doch immerhin bereit, mir entgegenzukommen. »Meinetwegen. Ich halte heute
Abend von sieben bis zehn meinen Zeichenkurs beim Erwachsenen-Bildungswerk.
Wenn Sie dort vorbeikommen, können wir reden, während die Teilnehmer arbeiten.
Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«
»Wunderbar. Das reicht völlig. Ich bin
Ihnen sehr dankbar.«
Sie erklärte mir, wo ich sie finden
würde. »Raum zehn, ganz hinten.«
»Bis dann.«
Ich kam um 17 Uhr 3 5 nach Hause und
sah, dass in Henrys Küche Licht brannte. Ich ging von meiner Hintertür zu
seiner hinüber und linste durch das Fliegengitter. Er saß in seinem
Schaukelstuhl bei seinem abendlichen Jack Daniels und las die Zeitung, während
das Essen vor sich hin kochte. Der Duft von Bratwurst und Zwiebeln wehte mir
entgegen. Henry legte die Zeitung weg. »Kommen Sie rein.«
Ich öffnete die Fliegentür und trat in
die Küche. Ein großer Topf mit Wasser begann gerade zu sieden, und ich sah
Tomatensoße auf der hinteren Platte köcheln. »Hi, Henry, wie geht’s? Was immer
da kocht, es riecht göttlich.«
Er hatte bestimmt sein Leben lang gut
ausgesehen, aber jetzt, mit dreiundachtzig, war er eine elegante Erscheinung — groß,
schlank, mit schneeweißem Haar und blauen Augen, die in seinem gebräunten
Gesicht zu leuchten schienen. »Ich will Lasagne machen. William kommt heute
Abend.« Henrys zwei Jahre älterer Bruder William hatte im August einen
Herzinfarkt gehabt und sich immer noch nicht richtig erholt. Henry hatte
erwogen, zu ihm nach Michigan zu fahren, dann aber doch beschlossen, den Besuch
zu verschieben, bis sich sein Zustand gebessert hatte. Das war nun offenbar
eingetreten, denn William hatte ihn angerufen, um sich anzukündigen.
»Stimmt ja. Das hatte ich ganz
vergessen. Na, das wird ja spannend. Wie lange will er bleiben?«
»Zwei Wochen. Wenn ich ihn ertragen
kann, auch länger. Er wird mir schrecklich auf die Nerven gehen. Körperlich ist
er
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