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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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künstlich
ebenmäßigen Zähnen, ein energisches Kinn und kräftige Hände mit stumpf
geschnittenen Fingernägeln. Er war etwas mehr als mittelgroß. Sein Anwalt
wirkte im Vergleich zu ihm sehr groß, grau und düster.
    »Danke«, sagte ich. Ich merkte erst
jetzt, dass ich den Atem angehalten hatte. Leland drückte auf die Abspieltaste,
und die Nachrichten wechselten gleich darauf zu einem völlig anderen Thema
über. Er gab mir Curtis McIntyres Karteifoto wieder. »Nichts von ihm zu sehen.«
    Für das Geld, das ich ihm gegeben
hatte, hätte er wenigstens Enttäuschung heucheln können. »Kann es am
Kamerawinkel liegen?«, fragte ich.
    »Wir haben die Totale und die
Nahaufnahme. Sie haben ja gesehen, wie sie allein durch die Tür kommen. Nach
dem, was wir hier drauf haben, ist niemand zu ihm hingegangen. Aber wie gesagt,
der Typ kann ihn ja angesprochen haben, als nicht mehr gefilmt wurde.«
    »Na gut, vielen Dank«, sagte ich. »Dann
muss ich mich wohl auf meine andere Quelle stützen.«
    Ich ging zu meinem Wagen zurück, ohne
recht zu wissen, was ich jetzt tun sollte. Falls sich bestätigte, dass Curtis McIntyre
gesessen hatte, wollte ich ihn zur Rede stellen, aber noch war es nicht so
weit. Theoretisch hatte ich noch etliche Leute zu befragen, aber David Barneys
Anruf hatte mich aus der Bahn geworfen. Ich wollte meine Zeit nicht darauf
verwenden, sein Alibi zu untermauern, aber wenn das, was er sagte, stimmte,
würden wir ziemlich dumm dastehen.
    Ich fuhr die gewundene Straße auf der
anderen Bergseite hinunter, bog nach rechts in den Promontory Drive ein, folgte
der Küstenstraße und gelangte von hinten wieder nach Horton Ravine. Die
nächsten anderthalb Stunden benutzte ich dazu, die Nachbarschaft abzuklappern,
um herauszufinden, ob jemand in der Mordnacht zufällig draußen gewesen war. Es
war nicht gerade ein berauschendes Gefühl, mich in David Barneys unmittelbarer
Nähe zu tummeln, aber ich sah keine andere Möglichkeit, mir Informationen zu
beschaffen. So etwas telefonisch anzugehen kann man gleich bleiben lassen.
Damit gibt man den Leuten nur die Möglichkeit, einfach einzuhängen, Geschichten
zu erfinden oder sich aufzuspielen.
    Ein Nachbar war weggezogen, ein anderer
gestorben. Eine Frau, die auf einem Nachbargrundstück wohnte, meinte, einen
Knall gehört zu haben, hatte sich damals aber nicht weiter darum gekümmert und
später Zweifel bekommen, ob es nicht doch etwas anderes gewesen sei. Was zum
Beispiel, dachte ich. Vielleicht bin ich ja besonders paranoid, aber wenn ich
etwas höre, das wie ein Schuss klingt, sehe ich immer auf die Uhr, um den
genauen Zeitpunkt festzuhalten.
    Von den Bewohnern der übrigen acht an
diesem Straßenstück verstreut liegenden Häuser war niemand in der fraglichen
Nacht draußen gewesen, und keiner hatte etwas gesehen. Ich hatte den Eindruck,
dass das alles viel zu lange her war, um noch einen Gedanken wert zu sein. Ein
Mord, der sechs Jahre zurückliegt, beschäftigt die Fantasie nicht mehr. Sie
hatten alle ihre Version der Geschichte schon zu oft erzählt.
    Ich fuhr zum Mittagessen nach Hause und
ging zuerst kurz in meine Wohnung, um den Anrufbeantworter abzuhören. Es war
nichts drauf. Dann ging ich nach nebenan zu Henry. Ich war gespannt auf William.
    Henry stand in der Küche, die Arme bis
zu den Ellbogen mit Vollweizenmehl bepudert. Er knetete Brotteig. Kleine
Klümpchen klebten an seinen Fingern wie Holzkitt. Normalerweise hatten Henrys
Backvorbereitungen etwas Meditatives — methodisch, routiniert, beruhigend für
den Betrachter. Heute dagegen wirkte sein Geknete grimmig, und in seinem Blick
lag etwas Gehetztes. Neben ihm an der Arbeitsplatte stand ein Mann, der sein
Zwillingsbruder hätte sein können: groß und schlank, mit dem gleichen schneeweißen
Haar, den gleichen blauen Augen, den gleichen aristokratischen Zügen. Die
Ähnlichkeit sprang sofort ins Auge. Doch die Unterschiede waren fundamental,
fielen aber erst beim zweiten Hinsehen auf.
    Henry trug ein Hawaii-Hemd, weiße
Shorts und Sandalen, und seine langen Gliedmaßen waren so sehnig und
sonnengebräunt wie die eines Langstreckenläufers. William trug einen
dreiteiligen Nadelstreifenanzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine Krawatte.
Seine Haltung war sehr aufrecht, fast steif, als müsste er damit eine
allgemeine Schwäche kompensieren, von der ich bei Henry nie etwas gemerkt
hatte. William hielt eine Broschüre in der leicht zittrigen Hand und tippte mit
einer Gabel auf einen Längsschnitt

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