Dringernder Verdacht
sachlich-argumentativ. »Könnten Sie nicht mal kurz nachsehen?«
Er streckte mir die Hand hin. Ich gab ihm das Karteifoto von Curtis. Er hielt
die Hand noch immer ausgestreckt.
Ich starrte ihn einen Moment lang an.
»Oh«, sagte ich. Ich öffnete meine Handtasche und zückte meine Brieftasche. Ich
fischte einen Zwanziger heraus und drückte ihn ihm in die Hand. Seine Miene
veränderte sich nicht merklich, aber mir war klar, dass er beleidigt war. Den
gleichen Blick würde man von einem New Yorker Taxifahrer ernten, wenn man ihm
ein Zehn-Cent-Stück als Trinkgeld anböte.
Ich blätterte einen weiteren Zwanziger
hin. Keine Reaktion. Ich sagte: »So jung und schon so korrupt.«
»Eine Schande, nicht wahr?«, erwiderte
er.
Ich legte noch einen Schein drauf.
Er schloss die Hand. »Kommen Sie mit.«
Er wandte sich um und verschwand durch
den Durchgang in einen schmalen Korridor. Ich folgte ihm wortlos. Rechts und links
gingen Büroräume ab. Gelegentlich passierten wir andere Mitarbeiter in Jeans
und Reeboks, aber niemand schien sonderlich beschäftigt. Die Räume wirkten voll
gepfropft und verwinkelt, mit zu viel knorzigem Kiefernfurnier an den Wänden
und zu vielen billig gerahmten Fotos und Urkunden. Das gesamte Gebäude schien
einer Do-it-yourself-Heimverschönerung anheim gefallen, die es später unmöglich
macht, es wieder zu verkaufen.
Am jenseitigen Ende des Ganges
gelangten wir in einen kleinen Beton-Blinddarmfortsatz mit einer Treppe, die
nach oben ins Dachgeschoss führte. In dem Kabuff stand rechterhand ein
altmodischer hölzerner Aktenschrank mit einem kleineren Kartei-Aufsatz. Er zog
das Schubfach für das fragliche Jahr heraus und begann, die Karteikarten durchzublättern,
wobei er zunächst von dem Namen Barney ausging. »Die Field-Tapes haben
wir nicht«, bemerkte er, während er weitersuchte.
»Was sind Field-Tapes?«
»Das wären die ganzen zwanzig Minuten
Rohmaterial, die unser Mann gefilmt hat. Wir heben nur die anderthalb bis zwei
Minuten Endfassung auf, die tatsächlich über den Äther gehen.«
»Ach. Na ja, das würde mir auch schon
helfen.«
»Es sei denn, der Typ, den Sie suchen,
hätte sich erst dann an den Verdächtigen rangemacht und mit ihm gesprochen, als
die Kameras nicht mehr liefen.«
»Leider wahr«, sagte ich.
»Nee. Nichts«, sagte er. »Na gut, sehen
wir mal weiter. Unter was könnte es noch stehen?« Er probierte es unter »Mord«,
»Prozesse« und »Gerichtsnotizen«, aber Isabelle Barney war nirgends aufgeführt.
»Versuchen Sie’s mal unter
>Tötungsdelikte<«, schlug ich vor.
»Oh, heißer Tipp.« Er suchte unter T.
Da war es, mit einer Nummer daneben, die sich wohl auf das zugehörige Videoband
bezog. Wir stiegen die schmale Treppe hinauf und traten durch eine Tür, die so
niedrig war, dass wir die Köpfe einziehen mussten. Drinnen erwartete uns ein
Labyrinth aus kleinen, mannshohen Kämmerchen, deren Wände mit säuberlich
beschrifteten, senkrecht eingeordneten Videokassetten vollgestellt waren. Leland
suchte und fand die Bänder, die wir wollten. Dann führte er mich wieder nach
unten und rechts um die Ecke, wo sich vier Kabinen mit Video-Apparaten
befanden. Er schaltete das erste Gerät an und legte das Band ein. Der erste
Spot erschien auf dem Schirm vor uns. Leland drückte die Schnellvorlauf-Taste.
Ich sah die Nachrichten des betreffenden Jahres vorbeirauschen wie die
Geschichte der menschlichen Zivilisation in zwei Minuten, alles putzmunter und
zackig. Ich erspähte eine Standaufnahme von Isabelle Barney. »Das ist sie«,
rief ich.
Leland spulte das Band ein Stück zurück
und ließ es dann mit Normalgeschwindigkeit ablaufen. Ein Nachrichtensprecher,
den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, kommentierte jetzt auf einmal
eine Serie zusammenmontierter Filmschnipsel, die schlaglichtartig Isabelles
Tod, David Barneys Verhaftung und den anschließenden Prozess illustrierten. Der
Freispruch wirkte in dieser kondensierten Form als ein Ergebnis prompter und
reibungslos funktionierender Wahrheitsfindung — wohl formuliert, flüssig
vorgetragen, im Namen von Recht und Freiheit. David Barney war zu sehen, wie er
aus dem Gerichtssaal kam, offenbar etwas benommen.
»Stopp. Das will ich sehen.«
Leland hielt das Band an und ließ mich
das Bild eingehend studieren. Barney war in den Vierzigern, mit zurückgekämmtem,
hellbraunem, welligem Haar. Er hatte Falten auf der Stirn und um die
Augenwinkel, eine gerade Nase und ein verkrampftes Grinsen über
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