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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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wahrscheinlich ganz oben. Er hat mich auf jeden Fall gesehen, und
ich weiß, dass er das mit dem Lieferwagen mitgekriegt hat. Sie hat mir einen solchen
Schrecken eingejagt, dass ich mich erst mal auf den Bordstein setzen musste,
bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert hatte. Es hat fünf oder sechs
Minuten gedauert, bis ich wieder okay war. Dann habe ich mir gesagt, zum Teufel
damit, und bin weitergelaufen, Richtung Heimat.«
    »Und das haben Sie der Polizei auch
erzählt?«
    »Lesen Sie den Bericht. Die Bullen
hatten sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass ich der Mörder war, und sind dem
nicht weiter nachgegangen.«
    Ich schwieg einen Moment und fragte mich,
was ich davon halten sollte. Noch vor zwei Tagen hätte ich seine Geschichte als
schlichten Schwindel abgetan, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.
»Ich werde es weitergeben, wenn ich Lonnie das nächste Mal spreche. Das ist
alles, was ich tun kann.« Du lieber Himmel, würde ich am Ende noch sein Alibi
untermauern müssen?
    Er setzte an, noch etwas zu sagen,
schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen. »Prima. Tun Sie das. Mehr
will ich gar nicht. Ich bin froh, dass Sie mich angehört haben«, sagte er. Sein
Blick streifte meinen. »Vielen Dank.«
    »Schon gut«, sagte ich.
    Er ging zu seinem Auto zurück. Ich
beobachtete im Rückspiegel, wie er den Motor anließ und rückwärts aus der
Einfahrt setzte. Er fuhr los, und ich horchte auf die Geräusche seines Getriebes,
als er schaltete. Seltsame Geschichte. Irgendetwas ließ eine kleine Alarmglocke
in mir klingeln, aber ich kam nicht dahinter, was es war. War Tippy Parsons
wirklich dort an der Kreuzung gewesen? Das musste sich doch überprüfen lassen.
Mir fiel wieder ein, was ich über das Unwetter damals gelesen hatte.
    Ich ließ den VW an, parkte aus und fuhr
zu meinem Termin mit seiner Ex-Frau.
    Die Santa Teresa Medical Clinic, wo
Laura Barney arbeitete, war ein kleiner Holzbau im Schatten des zwei
Grundstücke weiter gelegenen St.-Terry-Krankenhauses. Von außen war sie
unscheinbar — fast ein bisschen schäbig — , innen dagegen freundlich, aber man
merkte die Finanzknappheit. Die Stühle im Wartezimmer hatten blaue
Hartplastiksitze und Metallbeine und waren zu Sechser-Einheiten
zusammengeschraubt. Die Wände waren gelb, der Fußboden aus marmorierten
PVC-Fliesen, gelbbraun mit weißen Schlieren. Am einen Ende des Raums befand
sich ein breiter Anmeldetresen, durch den bogenförmigen Durchbruch auf der
anderen Seite sah ich vier Schreibtische, steiflehnige Bürostühle, Telefone,
Schreibmaschinen... keine Spur von High Tech, Stromliniendesign oder
Farbkodierung. Die rückwärtige Wand wurde gesäumt von gelbbraunen
Metall-Aktenschränken. Aus dem versprengten Häuflein von Kleinkindern,
Schwangeren und weinenden Säuglingen schloss ich, dass es sich um eine
Kombination aus Schwangeren- und Säuglingsvorsorge-Einrichtung handeln musste.
Die Sprechstunde war fast zu Ende, und die Patienten, die jetzt noch warteten,
wurden wahrscheinlich schon seit einer Stunde vertröstet. Spielzeug und
zerlesene Zeitschriften lagen über den Fußboden verstreut.
    Ich trat an den Anmeldetresen und
erkannte Laura Barney an ihrem Namensschildchen mit der Aufschrift: »Schwester
L. Barney«. Sie trug eine weiße Schwesternuniform und weiße Schuhe mit
Kreppsohlen. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie war in einem Alter, wo
sie immer noch das Gleiche frische, ansprechende Äußere präsentieren konnte wie
vor zehn Jahren — nur dass es sehr viel mehr Make-up erforderte und der Effekt
vermutlich nach ein, zwei Stunden nachließ. Zu dieser Tageszeit waren die
verschiedenen Schichten aus Make-up und Puder schon fast durchsichtig, und
darunter kam von roten Äderchen durchsetzte Raucherinnen-Haut zum Vorschein.
Sie sah aus wie eine Frau, die von den Umständen zur Berufstätigkeit gezwungen
wird und die darüber gar nicht glücklich ist.
    Sie war gerade dabei, eine neue Kraft
einzuweisen, vermutlich das junge Mädchen, mit dem ich am Telefon gesprochen
hatte. Laura zählte Geld auf den Tisch wie ein Bankkassierer, indem sie die
Scheine so rasch hinblätterte, dass das Auge kaum mitkam, und sie dabei so
drehte, dass sie richtig herum lagen. Wenn einer dazwischen war, der aus der
Reihe tanzte, steckte sie ihn rasch an den richtigen Platz. »Alle Scheine
müssen mit der gleichen Seite nach oben liegen und der Größe nach sortiert, die
kleinsten vorn. Einer, Fünfer, Zehner, Zwanziger«, erklärte sie.

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