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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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»Auf diese
Weise passiert es Ihnen nicht, dass Sie versehentlich einen Zehner statt eines
Einers herausgeben. Schauen Sie her...« Sie fächerte die Noten auseinander wie
ein Zauberer das Blatt bei einem Kartentrick. Ich erwartete schon, dass sie
sagen würde: »Ziehen Sie einen beliebigen Schein...« Aber sie sagte statt
dessen: »Hören Sie zu?«
    »Ja, Ma’am.« Die junge Frau war
vielleicht neunzehn, mit fünfzehn Pfund Übergewicht, dunklem, lockigem Haar,
rot angelaufenen Wangen und dunklen Augen, die von unterdrückten Tränen
glitzerten.
    Schwester L. Barney öffnete die
Kassenschublade wieder und entnahm ihr ein unordentliches Bündel Banknoten, das
sie dem Mädchen wortlos hinhielt. Die junge Nachwuchskraft nahm es und begann
schüchtern, die Hand voll Scheine durchzublättern, und drehte einen, in einer
unbeholfenen Imitation der routinierten Eleganz ihrer Lehrmeisterin, auf die
richtige Seite. Mehrere Noten steckten an der verkehrten Stelle, und sie
klemmte das Bündel an ihre Brust, während sie sich bemühte, sie in die korrekte
Reihenfolge zu bringen. Zwei Fünfer fielen ihr herunter. Sie stammelte eine Entschuldigung
und bückte sich rasch, um sie wieder aufzuheben. Laura Barney sah ihr leise
lächelnd zu, und aus ihren Augen funkelte der Drang, das Geld an sich zu reißen
und es selbst zu machen. Es musste sie in allen Fingern jucken, zu
demonstrieren, wie flink und flüssig eine erfahrene Kassiererin eine so
elementare Tätigkeit verrichtete. Unter ihrem gebannten Blick schien das
Mädchen noch ungeschickter zu werden.
    Sie selbst wirkte energisch und
tüchtig. Sie hatte einen Kugelschreiber in der Hand, mit dem sie ungeduldig
klickte. Sie verschwendete bestimmt nicht viel Zeit oder Mitgefühl an die
Patienten. Rein damit, raus damit. Leistung nur gegen Barzahlung. Ihr Lächeln
war freundlich, aber starr und hielt wahrscheinlich gerade die paar Sekunden,
die man brauchte, um die Kälte dahinter zu erkennen. Wenn man sich später beim
Arzt über sie beschweren wollte, würde man es schwer haben, konkret zu
benennen, was man an ihr auszusetzen hatte. Ich hatte schon öfter mit solchen
Leuten zu tun gehabt. Sie war ganz Form ohne Inhalt, eine Pedantin in
Kleinigkeiten, eine eifrige Hüterin der Vorschriften und Bestimmungen. Sie war
eine Schwester, die einem versicherte, die Tetanusspritze würde sich anfühlen
wie ein kleiner Bienenstich, während sie einem in Wirklichkeit einen Knubbel
von der Größe eines Türknaufs am Arm verpasste.
    Sie sah mich an und setzte sofort
wieder das starre Lächeln auf. »Ja?«
    »Ich bin Kinsey Millhone«, sagte ich.
Ihr Verhalten suggerierte, dass ich mich in ungebührlicher Weise vorgedrängelt
hatte. Sie beendete ihre Geldsortier-Lektion und rief dann unmittelbar
nacheinander zwei Patientinnen auf. »Mrs. Gonzales? Mrs. Russo?«
    Zwei Frauen erhoben sich von ihren
jeweiligen Stühlen. Die eine trug einen in Tücher gewickelten Säugling im Arm,
die andere ein Kleinkind auf der Hüfte. Beide hatten außerdem noch Kinder im
Vorschulalter dabei. Laura Barney hielt die hölzerne Schwingtür auf, die den
Warteraum von dem Gang trennte, der zu den Sprechzimmern führte. Die beiden
Frauen und die zugehörigen Kinder traten an ihr vorbei durch den Durchgang. Das
Wartezimmer war nun leer. Sie hielt die Tür noch immer auf. »Würden Sie mir
bitte folgen?«
    »O ja, natürlich.«
    Sie griff sich zwei Patientenkarten,
als wollte sie uns mit Speisekarten versehen, und bugsierte uns alle nach hinten,
während sie in rasantem Spanisch Instruktionen erteilte. Als alle auf
irgendwelche Sprechzimmer verteilt waren, ging sie weiter den Flur hinunter,
wobei ihre Kreppsohlen auf den PVC-Fliesen quietschten. Der Raum, in den sie
mich führte, war ein drei mal drei Meter großes Gelass mit einem Fenster, einem
schartigen Holzschreibtisch, zwei Stühlen und einer Gegensprechanlage — , die
Umgebung, in der einem mitgeteilt wird, was die eben durchgeführten
Laboruntersuchungen Schreckliches ergeben haben. Sie schloss die Tür und
verwies mich auf den einen Stuhl, während sie das Fenster öffnete und sich dann
selbst setzte. Sie zog ein Päckchen Virginia Slims und eine Schachtel
Streichhölzer aus ihrer Kitteltasche und steckte sich eine Zigarette an. Sie
sah verstohlen auf ihre Uhr, während sie so tat, als rückte sie das Armband
zurecht. »Sie sind gekommen, um mir Fragen wegen David zu stellen. Was genau
wollen Sie denn wissen?«
    »Ich nehme an, Sie stehen nicht
sonderlich gut

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