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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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noch nicht los, aber es hatte keinen Sinn, irgendetwas
forcieren zu wollen. Ich übergab das Ganze meinem Unterbewusstsein zur weiteren
Bearbeitung. Was immer es war, was mich irritierte, es würde schon noch an die
Oberfläche kommen.
    Um 18 Uhr 40 machte ich mich auf den
Weg zu meinem Termin bei Francesca Voigt. Wie die meisten Hauptpersonen in
diesem Drama wohnten auch sie und Kenneth in Horton Ravine. Ich fuhr den Cabana
westwärts und die lange, gewundene Hügelstraße bis über Harley’s Beach hinaus,
so dass ich von hinten in die Schlucht gelangte, von der der Ortsteil seinen
Namen hat. Ursprünglich hatte es hier zwei Ranches von jeweils über dreitausend
Morgen gegeben, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Kapitän
namens Robertson erworben, zusammengelegt und seinerseits an einen Schafzüchter
namens Tobias Horton weiterverkauft hatte. Seither war das Land in über 670
Parzellen aufgeteilt worden, die zwischen eineinhalb und fünfzig Morgen groß
und durch fast fünfzig Kilometer Straßen und Schleichpfade vernetzt waren. Ein
Luftbild hätte gezeigt, dass die beiden Häuser, obgleich scheinbar meilenweit
voneinander entfernt, in Wahrheit nur zwei Grundstücke auseinander lagen und
weniger durch räumliche Distanz als durch gewundene Straßenkilometer
voneinander getrennt waren. Tatsächlich war David Barney nicht der Einzige, der
ganz in der Nähe von Isabelles Haus wohnte.
    Die Voigts lebten auf circa sechs bis
acht Hektar, falls die Grundstücksgrenzen identisch mit den Hecken waren, die
sich die Straße entlang schlängelten und den Hang hinunter zogen. Die Sträucher
und Beete waren durchweg sorgsam gepflegt, und am Rande des Gartens standen
Grüppchen von hohen Eukalyptusbäumen. Die Zufahrt beschrieb einen Halbkreis,
dessen Zentrum ein dicht bepflanztes Stiefmütterchenbeet bildete, ein Gemisch
aus Tiefrot- und Lilatönen, die im Schein der Gartenstrahler leuchteten. Auf
der rechten Seite sah ich Pferdeställe, eine Sattelkammer und eine leere
Koppel. Die Luft muffelte ein ganz klein wenig nach Stroh, Feuchtigkeit und den
verschiedenen Abfallprodukten von Pferden.
    Das Haus war flach, weißes Balkenwerk,
weiß getünchter Backstein, mit lang gezogenen Steinterrassen entlang der
Vorderfront und dunkelgrünen Holzläden, die breite, zweiflügelige Fenster
flankierten. Ich stellte meinen Wagen in der Zufahrt ab, klingelte und wartete.
Ein phlegmatisches weißes Hausmädchen in schwarzer Tracht öffnete mir. Die Frau
war meiner Schätzung nach in den Fünfzigern und wirkte aus irgendeinem Grund
ausländisch — Gesichtsform, Statur... ich kam nicht dahinter. Sie sah mir nicht
richtig in die Augen. Ihr Blick blieb irgendwo in der Nähe meines
Schlüsselbeins hängen und verharrte dort, während ich ihr sagte, wer ich war
und dass ich erwartet würde. Sie antwortete nicht, vermittelte aber durch ihre
Körpersprache, dass sie meine Erklärungen verstanden hatte.
    Ich folgte ihr durch die mit poliertem
weißem Marmor ausgelegte Diele und dann über weißen Teppichboden, so dick und
so rein wie eine jungfräuliche Schneedecke. Wir durchquerten das Wohnzimmer — Glas
und Chrom, kein Nippes, kein Buch. Der Raum schien für eine Familie von Riesen
bestimmt. Die Möbel waren alle weiß bezogen und überdimensioniert: breite,
klobige Sofas, wuchtige Sessel, der Glas-Couchtisch so groß wie eine
Doppelbettmatratze. Auf einer mächtigen Anrichte stand eine Schüssel mit
hölzernen Äpfeln vom Kaliber eines Softballs. Der Effekt war eigenartig: Ich
fühlte mich, wie ich mich mit fünf Jahren gefühlt hatte. Vielleicht war ich ja
geschrumpft, ohne es zu merken.
    Wir gingen durch einen Flur, durch den
locker ein Schneepflug gepasst hätte. Das Hausmädchen blieb vor einer Tür
stehen, klopfte einmal an, öffnete, hielt mir die Tür auf und starrte höflich
auf mein Brustbein, während ich an ihr vorbeischlüpfte. Francesca saß an einer
Nähmaschine in einem Zimmer, das für gewöhnliche Menschen dimensioniert und
buttergelb gestrichen war. Über eine ganze Wand zog sich ein ästhetisch unterteilter,
maßgeschreinerter Einbauschrank, dessen offene Türen den Blick auf verschiedene
Fächer mit Schnittmustern, Stoffballen, Litzen und Borten sowie Nähzubehör
freigaben. Das Zimmer war luftig, die Beleuchtung ausgezeichnet, die hellen
Hartholzdielen abgezogen und lackiert.
    Francesca war groß und sehr schlank,
mit hyperkurzem, braunem Haar und fein ziselierten Gesichtszügen. Sie hatte
vorstehende

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