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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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eine lärmende Horde Frauen, die ihren Sieg bei irgendeinem Liga-Turnier
feierten. Sie paradierten durch die Gaststube, mit einem Pokal vom Kaliber
einer Siegesstatue, unter Johlen und Pfeifen und Trampeln. Eigentlich duldete
Rösie keine Krawallmacher, aber die gute Laune der Keglerinnen steckte an, und
sie sagte nichts.
    Ich nahm einen Becher und goss mir
Kaffee aus der Kanne ein, die Rosie hinter der Theke bereithält. Als ich in
meine Lieblings-Nische schlüpfte, sah ich Henry hereinkommen. Ich winkte, und
er steuerte auf Umwegen auf mich zu. Eine der Kegeldamen fütterte die Jukebox
mit Münzen. Musik dröhnte durch den Raum, vermischt mit Zigarettenqualm, Huhus
und lautem Gelächter.
    Henry glitt auf die Bank mir gegenüber
und ließ den Kopf auf die Arme sinken. »Wunderbar. Krach, Whiskey, Rauch,
Leben! Ich habe es so satt, mit diesem Hypochonder zusammen zu sein. Er macht
mich wahnsinnig. Gott ist mein Zeuge. Seine Gesundheitsvorkehrungen haben uns
den ganzen Tag beschäftigt. Jede Stunde, auf die Sekunde pünktlich, muss er eine
Pille nehmen oder ein Glas Wasser trinken... um seinen Organismus
durchzuspülen. Er macht Yoga zur Entspannung. Er macht Gymnastik zum
Wachwerden. Er misst zwei Mal täglich seinen Blutdruck. Er untersucht seinen
Urin mit kleinen Teststreifen auf Zucker und Eiweiß. Er führt ständig Buch über
alle seine Körperfunktionen. Jedes kleine Zwicken und Zwacken. Wenn sein Magen
gurgelt, ist das ein Symptom. Wenn er einen fahren lässt, gibt er ein Bulletin
heraus. Als ob ich es nicht längst gemerkt hätte. Dieser Mensch ist der größte
Egomane, Langweiler und Sauertopf, dem ich je begegnet bin, und er ist erst
einen Tag hier. Ich kann es nicht fassen. Mein eigener Bruder.«
    »Möchten Sie was trinken?«
    »Ich getraue mich nicht. Ich könnte
nicht mehr aufhören. Sie würden mich zur Ausnüchterung bringen müssen.«
    »War er schon immer so?«
    Henry nickte trübsinnig. »Es war mir
bisher nur nicht so aufgefallen. Oder vielleicht ist es auch mit zunehmender
Senilität schlimmer geworden. Ich erinnere mich, als Kind hatte er dauernd diese
Unfälle. Er fiel von Bäumen und von Schaukeln. Einmal brach er sich den Arm.
Dann das Handgelenk. Er hat sich fast das Auge mit einem Bleistift
ausgestochen. Und die ewigen Schnittwunden. Mein Gott, man durfte ihn nicht in
die Nähe eines Messers lassen. Er hatte alle möglichen Allergien und die
merkwürdigsten Störungen. Er hatte eine spastische Speicheldrüse... ich schwöre
es. Später kam dann eine Phase von zehn Jahren, in der ihm alle inneren Organe
rausgenommen wurden. Mandeln und Polypen, der Blinddarm, die Gallenblase, eine
Niere, ein knapper Meter Dünndarm. Dieser Mensch hat es sogar fertig gebracht,
sich die Milz zu zerreißen. Raus damit. Aus den Teilen, die er abgestoßen hat,
hätte man einen kompletten neuen Menschen basteln können.«
    Ich sah auf und bemerkte direkt neben
mir Rosie, die Henrys Ausbruch mit gelassener Miene lauschte. »Ist er am Ende
mit Nerven?«
    »Sein Bruder aus Michigan ist zu Besuch
da.«
    »Mag er nicht Bruder?«
    »Dieser Mensch treibt ihn in den
Wahnsinn. Er ist ein Hypochonder.«
    Sie wandte sich Henry interessiert zu.
»Was ist Problem? Ist er krank?«
    »Nein, er ist nicht krank. Er ist total
neurotisch.«
    »Bringen hierher. Ich kriege hin. Kein
Grund für Aufregung.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie das Problem
in seiner ganzen Tragweite erfassen«, sagte ich.
    »Ist kein Problem. Ich kriege hin. Wie
ist Name von Bruder?«
    »Er heißt William.«
    Rosie sagte: »William«, während sie
etwas in ihr Notizbüchlein schrieb. »Alles klar. Ich kriege hin. Keine Sorge.«
    Sie entschwand, und ihr hawaiianisches
Flattergewand umwehte sie wie ein Hexenumhang.
    »Bilde ich mir das nur ein, oder ist
ihr Englisch in letzter Zeit schlechter geworden?«, fragte ich.
    Henry sah mich mit einem matten Lächeln
an.
    Ich tätschelte ihm mütterlich die Hand.
»Nur Mut. Alles klar.
    Kein Grund für Aufregung. Sie kriegt
hin.«
    Ich war schon um zehn zu Hause, aber
ich hatte nicht die geringste Lust, noch weiter zu putzen. Ich zog die Schuhe
aus und benutzte meine Socken, um im Hinaufgehen halbherzig die Wendeltreppe
abzustauben. Es wird schon für mich arbeiten, dachte ich...
     
    In den frühen Morgenstunden wurde ich
durch ein Telegramm meines Unterbewusstseins geweckt. »Lieferwagen«, lautete
die Botschaft. Wieso Lieferwagen? Meine Augen klappten auf, und ich starrte auf
das Oberlicht über meinem Bett. Der

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