Dringernder Verdacht
außen
wirkte das Fünfzig-Betten-Haus schlicht und sauber — vermutlich nicht billig.
Ich parkte am Bordstein und erklomm die vier Betonstufen zu dem leicht
ansteigenden Fußweg. Der Rasen zu beiden Seiten war im Winterschlaf,
kurzgeschoren und fleckig gelb. Eine amerikanische Fahne hing schlaff von einem
Mast beim Eingang.
Ich trat durch eine breite Tür in eine
komfortabel möblierte Eingangshalle, die im Stil an eine bessere Motel-Kette
erinnerte. Von Weihnachten war noch nichts zu bemerken. Die Farbgebung war
angenehm: ruhige, gedeckte Blau- und Grüntöne. Es gab eine chintzbezogene Couch
und vier dazu passende Polstersessel, die so arrangiert waren, dass sie zu
einem gemütlichen Plausch einluden. Die Zeitschriften auf dem Couchtisch waren
säuberlich aufgefächert. Die einander überlappenden Titel bildeten einen Bogen,
der mit Vital in die besten Jahre begann. Für Grün sorgten auch zwei
Ficus-Bäume, die sich bei näherem Hinsehen als künstlich entpuppten. Sie
konnten beide eine staubwischende Hand gebrauchen, aber wenigstens waren sie
nicht anfällig für Spinnmilben und Mehltau.
An der Anmeldung bat ich, den Leiter
des Heims sprechen zu dürfen, und man schickte mich zum Büro eines gewissen Mr.
Hugo, gleich links, auf der Mitte des Flures. Dieser Trakt war ausschließlich
Verwaltungszwecken Vorbehalten, von Patienten, Rollstühlen, Fahrbetten oder
sonstigem Klinikzubehör keine Spur. Es roch nicht einmal nach Krankenhaus. Ich
trug kurz mein Ansinnen vor, und nach fünfminütigem Warten wurde ich von Mr.
Hugos persönlicher Sekretärin vorgelassen. Pflegeheim-Direktoren haben offenbar
reichlich Lücken in ihrem Terminkalender.
Edward Hugo war schwarz, Mitte sechzig,
mit krausem, grauweißem Haar und einem breiten, weißen Oberlippenbart. Seine
Haut war glänzend braun, die Farbe von Karamell. Die Falten in seinem Gesicht
erinnerten an ein gefaltetes und wieder auseinandergeklapptes Origami-Papier.
Er war unauffällig gekleidet, aber irgendetwas in seiner Art erinnerte an
obligatorische Smoking-Auftritte bei lokalen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Er
reichte mir über den Schreibtisch hinweg die Hand und nahm dann wieder Platz,
während ich mich ebenfalls setzte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wüsste gern den Namen eines
ehemaligen Patienten von Ihnen, der Weihnachten vor sechs Jahren von einem
unbekannten Autofahrer angefahren und tödlich verletzt wurde.«
Er nickte. »Ich weiß, wen Sie meinen.
Würden Sie mir Ihre Gründe erläutern?«
»Ich versuche, ein Alibi in einer
anderen Kriminalsache zu überprüfen. Es würde mir sehr helfen, wenn ich in
Erfahrung bringen könnte, ob der Schuldige jemals ermittelt wurde.«
»Ich glaube nein. Meines Wissens nicht.
Die Sache geht mir, offen gestanden, immer noch nach. Der Name des alten Herrn
war Noah McKell. Sein Sohn Hartford lebt hier in der Stadt. Ich kann
veranlassen, dass Mrs. Rudolph seine Nummer heraussucht, falls Sie mit ihm
sprechen wollen.«
Er fuhr in der gleichen Art fort,
direkt, freundlich, sachlich, und brachte es fertig, mir in zehn Minuten in
sorgsam formulierten Sätzen alle wesentlichen Informationen zu vermitteln. Nach
seiner Darstellung hatte sich Noah McKell in jener Nacht von seiner Tropfkanüle
und seinem Katheter befreit, seine Straßenkleidung angezogen und sein
Einzelzimmer durch das Fenster verlassen.
Das erstaunte mich. »Sind die Fenster
nicht gesichert?«
»Das hier ist ein Krankenhaus, Miss
Millhone, kein Gefängnis. Vergitterte Fenster wären eine Gefahr, falls je ein
Feuer ausbräche. Außerdem sind wir der Meinung, dass die frische Luft und der
Blick ins Grüne unseren Patienten gut tun. Er hatte sich vorher schon zwei Mal
vom Gelände entfernt, was uns in Anbetracht seiner Verfassung große Sorge
bereitete. Wir hatten eine Fixierung zu seinem eigenen Schutz erwogen, konnten
uns aber nicht dazu durchringen, und sein Sohn war entschieden dagegen. Wir
haben dafür gesorgt, dass das Gitter an seinem Bett hochgeklappt wurde und etwa
jede halbe Stunde jemand nach ihm sah. Die Dienst habende Schwester ging um ein
Uhr fünfzehn zu ihm hinein und entdeckte das leere Bett.
Als wir merkten, dass er weg war, haben
wir natürlich unverzüglich entsprechende Maßnahmen ergriffen. Die Polizei wurde
alarmiert, und unsere Wachleute hier starteten augenblicklich eine Suchaktion.
Ich wurde zu Hause telefonisch benachrichtigt und kam sofort herüber. Ich wohne
droben an der Tecolote Road, so dass ich gleich da war. Als ich
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