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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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nicht weckt. Bei dieser Ermittlungsarbeit wurde mir wieder einmal
die unbehagliche Tatsache bewusst, dass ich mich, indem ich in den trüben
Wassern stocherte, den Bestien aussetzte, die dort lauerten.
    Morley Shines Einfahrt war leer, der
rote Ford-Mietwagen nirgends zu sehen. Der Mercury stand immer noch auf dem
Rasen an der Seite. Ich studierte vom Türabsatz aus das Rostfleckenmuster auf
dem Kotflügel, während ich abwartete, ob jemand auf mein Klopfen reagierte.
Zwei Minuten vergingen. Ich klopfte erneut, diesmal lauter, und hoffte
inständig, dass ich nicht Dorothy Shine von ihrem Krankenlager aufscheuchte.
Nach fünf Minuten schien es mir gerechtfertigt, davon auszugehen, dass keiner
da war. Vielleicht hatte Louise Dorothy zum Arzt gebracht, oder sie hatten
beide zum Bestattungsinstitut fahren müssen, um einen Sarg auszusuchen. Louise
hatte mir ja gesagt, dass sie die Hintertür immer unabgeschlossen ließen. Also
ging ich ums Haus, unter der Überdachung hindurch, die die Garage mit dem Haus
verband. Die Tür zum Wirtschaftsraum war nicht nur unverschlossen, sondern
lediglich angelehnt. Ich klopfte wieder an die Glasscheibe und wartete dann ein
angemessenes Weilchen, für den Fall, dass doch jemand zu Hause war. Ich ließ
meinen Blick ziellos über das Grundstück schweifen. Ich fühlte mich leicht
deprimiert. Das Ganze wirkte, als würde es bald unter den Hammer kommen. Der
hintere Garten war vernachlässigt, das Wintergras verdorrt und erfroren. In den
unkrautüberwucherten Beeten, die den Rasen säumten, standen noch die
einjährigen Herbstblumen in lieblos gepflanzten Büscheln. Die ehemals
sonnengelben Ringelblumen waren jetzt braun, ein Garten von toten Blüten mit
schlaffen, welken Blättern. Wahrscheinlich hatte Morley schon seit einem Jahr
nicht mehr mit seiner Frau hier draußen gesessen. Ich sah einen gemauerten
Grill, dessen Drahtstäbe so viel Rost angesetzt hatten, dass sie sich fast
berührten.
    Ich schob die Tür ganz auf und trat
ein. Ich wusste selbst nicht recht, warum ich solche Skrupel hatte. Normalerweise
hätte ich nicht lange gezögert und mich ein bisschen umgesehen, einfach, weil
ich neugierig bin und die Gelegenheit günstig war. Aber hier hatte ich
irgendwie nicht die Stirn, einfach herumzuschnüffeln. Morley war tot, und was
von seinem Leben geblieben war, sollte vor Übergriffen sicher sein. Ich legte
die Einkaufstasche wie mir geheißen auf die Waschmaschine. Selbst hier roch es
medizinisch, und aus den Tiefen des Hauses hörte ich das Ticken einer Uhr. Ich
zog die Tür hinter mir zu und ging wieder nach vorne zur Straße.
    Als ich meine Wagenschlüssel
herausholte, fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja Morleys Schlüssel in der
Tasche mit den Akten hatte lassen wollen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und
eilte im Leichttrab wieder zurück. Als ich an dem Mercury vorbeikam, merkte
ich, wie mein Schritt sich verlangsamte. Was da wohl im Kofferraum sein mag,
flüsterte mein böses Ich. Und selbst mein gutes meinte, es könne nicht schaden,
wenn ich nachsah. Man hatte mir anstandslos Zutritt zu seinen Büroräumen
gewährt. Ich hielt seine Schlüssel in der Hand, und im Interesse der
Gründlichkeit schien es nur selbstverständlich, dass ich auch sein Fahrzeug
inspizierte. Als ich an diesem Punkt meiner Rationalisierungen angekommen war,
hatte ich bereits den Kofferraumdeckel hochgeklappt. Ich starrte enttäuscht auf
den Reservereifen, den Wagenheber und eine leere Coors-Bierdose, die aussah,
als ob sie schon seit Monaten hier drinnen herumrollte.
    Ich schloss den Kofferraum und ging zur
Fahrertür, schloss sie auf und durchsuchte das Innere des Wagens, wobei ich mit
dem Fond begann. Die Sitze waren mit dunkelgrünem Wildlederimitat bezogen und
rochen nach Zigarettenrauch und altem Haaröl. Der Geruch ließ für einen Moment
Morley vor mir auferstehen, und mich durchzuckte ein plötzlicher Schmerz. »O
Gott, Morley, hilf mir«, sagte ich.
    Die Inspektion des hinteren Fußraumes
erbrachte eine Benzinquittung und eine Haarnadel. Ich wusste nicht genau, was
ich suchte... eine Rechnung, ein Streichholzbriefchen, ein Fahrtenbuch, irgendetwas,
was mir Hinweise darauf gab, wo Morley im Zuge seiner Ermittlungen gewesen war
und was er gemacht hatte. Ich schlüpfte auf den Fahrersitz und legte die Hände
ums Steuerrad. Ich fühlte mich wie ein Kind. Morleys Beine waren länger gewesen
als meine, und ich kam kaum an die Pedale. In den Seitentaschen nichts. Nichts
auf dem Armaturenbrett.

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