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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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gestoßen.«
    »Ich will sie mir gern ansehen.«
    »Eine Frage noch. Hat sich bei Ihnen je
ein Detektiv namens Morley Shine gemeldet?«
    Ihr Gesicht verdüsterte sich einen
Moment. »Nein, ich glaube nicht. Nicht, dass ich wüsste. Nein, ganz sicher
nicht. Mit Namen bin ich gut — die Gäste, die öfter kommen, mögen es, wenn man
sich erinnert — , und der da ist ja ziemlich ausgefallen. Ich würde es bestimmt
noch wissen, wenn ich mit ihm gesprochen hätte, noch dazu über diese Sache. Was
hat er damit zu tun?«
    »Er hat diesen Fall bis vor zwei Tagen
bearbeitet. Er ist am Sonntagabend an einem Herzinfarkt gestorben. Deshalb bin
ich eingesprungen. Es sieht so aus, als hätte er auch einen Zusammenhang
zwischen den beiden Vorfällen vermutet.«
    »Was war noch mal der andere? Als Sie vorhin
hier waren, sagten Sie etwas von einem Beinahe-Unfall.«
    »Ein weißer Lieferwagen hat einen Mann
an einer Abfahrt vom Eins-null-eins-Süd leicht angefahren. Das war so etwa um
ein Uhr fünfundvierzig. Der Mann hat behauptet, er hätte die Fahrerin erkannt,
wusste aber nichts von dem anderen Unfall vorher.« Ich hielt den Umschlag hoch.
»Morley Shine hat diesen Film hier zum Entwickeln gebracht. Falls er vorhatte,
mit Ihnen zu reden, hat er wahrscheinlich noch auf die Fotos gewartet, um sie
Ihnen zur Identifikation vorzulegen.« Ich schob ihr den Umschlag über den
Tresen.
    Sie rückte ihre Brille zurecht und nahm
die zwölf Fotos heraus. Sie studierte sie nachdenklich, prüfte jedes einzelne
ganz konzentriert, ehe sie es auf den Tisch legte, wo sich quer über die Schreibunterlage
eine Lieferwagen-Karawane formierte. Ich lauerte auf eine Reaktion, aber als
sie zu dem Wagen von Tippys Vater kam, passierte gar nichts — keine Regung in
ihrem Gesicht, kein Ausdruck der Überraschung oder des Wiedererkennens. Sie
musterte die sechs Lieferwagen eingehend und tippte dann mit dem Zeigefinger
auf den mit dem Olympic-Painting-Zeichen. Sie sagte: »Das ist er.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ganz sicher.« Sie nahm das Foto und
inspizierte es aus nächster Nähe. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich den noch
einmal wiedersehe.« Sie sah mich an. »Vielleicht kriegt da ja doch noch jemand
seine gerechte Strafe. Das wäre wirklich erfreulich.«
    Ich sah einen Moment lang Tippy vor
mir. »Vielleicht«, sagte ich. »Jedenfalls wird sich die Polizei bei Ihnen
melden, sobald ich sie benachrichtigt habe.«
    »Wollen Sie jetzt gleich hin?«
    Ich schüttelte zögernd den Kopf. »Ich
muss erst noch etwas anderes erledigen.«
    Ich rief schnell bei dem
Langusten-Imbiss an, aber Tippy hatte ihre Schicht getauscht und würde heute
nicht kommen. Ich verließ das Motel und fuhr nach Montebello, in der Hoffnung,
Tippy zu Haus zu erwischen... am liebsten, ohne dass ihre Mutter im Hintergrund
wachte. Ich hatte diese Frau selbst aufgescheucht. Rhe wusste, dass etwas im
Anmarsch war, auch wenn sie den Ernst der Lage wahrscheinlich nicht ahnte.
    Der West Glen ist eine der
Hauptverkehrsadern durch Montebello, eine gewundene, zweispurige Straße,
gesäumt von hohen Hecken und niedrigen Steinmäuerchen. Winden ergossen sich
über die Zäune wie blaue Wasserfälle. Die knorrigen Aste der immergrünen Eichen
bildeten über mir einen dichten Schirm, Platanen wechselten sich mit
Eukalyptusbäumen und Akazien ab. Dichte Büsche leuchtend pinkfarbener Geranien
wucherten am Straßenrand wie Unkraut.
    Rhe und Tippy bewohnten einen kleinen
Drei-Zimmer-Bungalow dicht an der Straße. Ich quetschte meinen Wagen in eine
Lücke auf dem Randstreifen, ging über den schmalen Fußweg zur Eingangstür und
klingelte. Tippy erschien fast im selben Moment, die Jacke halb übergezogen.
Tasche und Wagenschlüssel in der Hand. Sie war ganz offensichtlich im Gehen
begriffen. Sie starrte mich verdutzt an, die Hand auf dem Türknauf. »Was wollen
Sie denn hier?«
    »Ich habe noch ein paar Fragen an Sie,
wenn es Recht ist«, sagte ich.
    Sie zögerte, sah auf die Uhr. Auf ihrem
Gesicht spiegelte sich ein kleiner innerer Kampf — Unwille, Ärger und
Wohlerzogenheit, die sich gegenseitig niederzuringen versuchten. »O Mann, ich
weiß nicht. Ich bin in zwanzig Minuten mit meiner Freundin verabredet. Geht es —
können Sie’s kurz machen?«
    »Sicher. Kann ich reinkommen?«
    Sie trat zurück, nicht sonderlich
entzückt, aber zu höflich, um es mir zu verwehren. Sie trug Jeans und
hochhackige Stiefel, und unter ihrer blauen Jeansjacke schaute ein Stück von
einem schwarzen Body hervor. Ihr

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