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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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leicht zu. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich
schlagartig. »Tja, hm, da fällt mir etwas ein. Großvater Pitts hat sich
gelegentlich auch ein Gläschen genehmigt. Du erinnerst dich doch, William? Ich
sehe ihn noch genau vor mir, auf der Vorderveranda, in seinem Schaukelstuhl,
mit seinem Glas Black Jack.«
    »Aber dann ist er gestorben«, sagte William.
    »Natürlich ist er gestorben! Der Mann
war hunderteins!«
    Williams Miene verdüsterte sich. »Du
brauchst nicht so zu schreien.«
    »Ach, verdammt! Nicht einmal die
biblischen Patriarchen sind so alt geworden wie er. Es ging ihm großartig. Er
war gesund und munter. Alle in unserer Familie...«
    »Hennnrrry, halt an dich«, sang ich.
    Er war auf der Stelle still. Rosie kam
jetzt wieder an den Tisch, ein Tablett in den Händen. Sie brachte ein Glas
Weißwein für mich, ein Bier für Henry sowie zwei Likörgläser und eine kleine,
dekorative Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. William hatte sich
wohlerzogen wieder erhoben. Er zog einen Stuhl für sie ab. Sie stellte das
Tablett hin und schenkte ihm ein affektiertes Lächeln. »Ein echter Gentleman«,
sagte sie, während sie ihn regelrecht anplinkerte. »Reizend.« Sie reichte mir
den Wein und Henry das Bier und setzte sich dann. »Sie erlauben, bitteschön.«
    »Nur eine ganz kleine Menge«, sagte er.
    »Sage ich Menge«, verkündete sie.
»Zeige ich Ihnen, wie man trinkt. So.« Sie goss das eine Gläschen randvoll mit
Sherry, führte es an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und kippte den
Inhalt hinunter. Dann tupfte sie sich zierlich die Mundwinkel mit dem
Zeigefingerknöchel. »Jetzt Sie«, sagte sie. Sie füllte das zweite Likörglas und
gab es William.
    Er zögerte.
    »Tun Sie, was sich sage«, kommandierte
sie.
    William tat, was sie sagte. Sobald der
Alkohol seine Kehle netzte, überkam ihn ein Schauer... ein köstlicher,
unwillkürlicher Spasmus, der in den Schultern begann und rasch seine
Wirbelsäule hinunterlief. »Donnerschlag!«
    »Ist richtige Wort,
>Donnerschlag<«, sagte sie. Sie musterte ihn verschlagen, und ihr Lachen
war eindeutig lasziv. Sie goss sich und ihm erneut ein und kippte ihre Dosis
wie ein alter Cowboy in einem John-Wayne-Film. William, offenbar auf den
Geschmack gekommen, tat es ihr nach. Auf seine Wangen war jetzt ein wenig Farbe
getreten. Henry und ich sahen mit großen Augen zu.
    »So!« Rosie klatschte mit der Hand auf
den Tisch und gab sich einen Ruck. Sie stand auf und stellte die Sherry-Flasche
und die beiden Gläser sorgsam wieder auf das Tablett zurück. »Morgen. Zwei Uhr.
Genau wie Medizin. Ganz pünktlich. Jetzt werd ich bringen Essen. Weiß ich
genau, was gut. Kein Wort.«
    Ich fühlte, wie mir das Herz in die
Hose rutschte. Ich wusste, das Essen würde aus irgendeinem fantastischen Gebräu
aus ungarischen Gewürzen und gesättigten Fettsäuren bestehen, aber ich hatte
nicht die Kraft zu flüchten.
    William sah ihr nach. »In der Tat
bemerkenswert«, sagte er. »Ich glaube, ich spüre schon, wie mein Blutdruck
sinkt.«
     
     
     

17
     
    Ich schlief schlecht in dieser Nacht
und joggte am Freitagmorgen nur halbherzig. Morleys Trauerfeier war um io Uhr,
und ich fürchtete mich davor. Es hingen immer noch zu viele unbeantwortete
Fragen in der Luft, und ich fühlte mich irgendwie für die meisten verantwortlich.
Lonnie würde aus Santa Maria zurückkommen, sobald die Verhandlung vorbei war.
Ich hatte noch einen Stapel Zeugenvorladungen, die Morley nicht zugestellt
hatte, aber es war unsinnig, mich damit auf die Socken zu machen, ehe nicht
klar war, was eigentlich los war. Vielleicht würde Lonnie ja gar nicht vor
Gericht gehen. Ich duschte und wühlte dann in meiner Unterwäscheschublade, auf
der Suche nach einer Strumpfhose, die nicht aussah, als seien junge Katzen die
Beine hochgeklettert. Die Schublade war ein einziges Geknäule aus alten
T-Shirts und einzelnen Socken. Irgendwann musste ich mich wirklich daranmachen,
hier Ordnung zu schaffen. Ich zog mein Universal-Kleid an, das für Beerdigungen
perfekt geeignet ist: schwarz und langärmlig und aus irgendeinem exotischen
Polyestergemisch, das man ein Jahr lang irgendwo verbuddeln könnte, ohne dass
es eine Knitterfalte bekäme. Ich schlüpfte in ein Paar schwarze, flache Schuhe,
damit ich laufen konnte ohne zu humpeln. Ich habe Freundinnen, die auf hohe
Absätze stehen, aber ich kann das nicht nachvollziehen. Ich denke mir, wenn
hohe Absätze so etwas Tolles wären, würden alle Männer welche tragen.

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