Dringernder Verdacht
Sie ein Bier? Ich spendiere Ihnen eines.«
»Ich hätte lieber Weißwein, wenn es
Ihnen nichts ausmacht«, sagte ich.
»Aber sicher. Kein Problem. Also
Weißwein.«
Ich hätte schwören können, dass die
beiden seit dem Vortag, als ich sie zuletzt gesehen hatte, einen
Regressionsprozess durchgemacht hatten. Ich sah sie förmlich mit acht und zehn
vor mir. Henry bestand nur aus Ellbogen und Knien und hatte eine mürrisch-kampflustige
Kleine-Bruder-Haltung am Leib. Wahrscheinlich hatte er seine ganze Kindheit
hindurch unter Williams heikler und besserwisserischer Art gelitten. Vielleicht
hatte ihre Mutter Henry der Obhut seines Bruders anvertraut und ihnen so eine
ungewollte Nähe aufgezwungen. William schien durchaus der Typ, der seinen
kleinen Bruder unter der Knute hielt und ihn piesackte, wenn er ihn nicht
gerade verpetzte. Jetzt, mit dreiundachtzig, wirkte Henry gleichzeitig nervös
und rebellisch, unfähig, sich anders zu behaupten als durch Clownerien und
Seitenhiebe.
Er hielt Ausschau nach Rosie, während
William sich wieder setzte. Ich wandte mich William zu und erhob meine Stimme,
damit er mich bei dem ganzen Krach hören konnte. »Wie war Ihr erster Tag in
Santa Teresa?«
»Ich würde sagen, der Tag war ganz
nett. Ich hatte einen kleinen Anfall von Herzrasen...« Williams Stimme war
schwach und brüchig.
Ich legte die Hand ans Ohr, um zu
signalisieren, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Henry beugte sich zu mir.
»Wir haben den Nachmittag in der
Not-Ambulanz verbracht«, schrie Henry. »War sehr lustig. So eine Art Zirkus für
gratisversicherte Rentner.«
William sagte: »Ich hatte ein Problem
mit meinem Herzen. Der Doktor hat ein EKG machen lassen. Ich weiß nicht mehr,
wie er diese spezielle Störung nannte...«
»Luft im Bauch«, brüllte Henry. »Du
brauchtest weiter nichts zu tun als zu rülpsen.«
William schien von Henrys Witzen nicht
weiter beeindruckt. »Meinem Bruder ist jeder Hinweis auf die Vergänglichkeit
des Menschen nicht geheuer.«
»Nachdem ich dich mein Leben lang vor
Augen hatte, sollte ich eigentlich daran gewöhnt sein.«
Ich konzentrierte mich immer noch auf
William. »Fühlen Sie sich jetzt okay?«
»Ja, danke«, erwiderte er.
»Also, ich fühle mich so«, sagte Henry.
Er verdrehte die Augen, ließ die Zunge aus dem Mundwinkel hängen und umkrallte
seine Brust.
William war kein Lächeln zu entlocken.
»Möchten Sie mal sehen?«
Ich wusste nicht recht, was er meinte,
bis er den Papierstreifen mit seinem EKG herauszog. »Das haben sie Ihnen mitgegeben?«,
fragte ich.
»Nur diesen Teil. Der Rest liegt bei
meiner Karte. Ich habe meine Kranken-Unterlagen mitgebracht, für den Fall, dass
ich sie brauche.«
Wie starrten alle drei auf die Borte
aus Tintenlinien mit den Zacken in regelmäßigen Intervallen. Es sah aus wie ein
Ozean-Querschnitt mit vier Haifischflossen.
William beugte sich dichter zu mir.
»Der Arzt will mich genauestem im Auge behalten.«
»Versteht sich«, sagte ich.
»Schade, dass Sie sich nicht einen Tag
freinehmen können«, sagte Henry zu mir. »Sonst könnten wir immer abwechselnd
Williams Puls kontrollieren.«
»Spotte nur, so viel du willst, aber
letztlich muss jeder mit der eigenen Sterblichkeit zu Rande kommen«, sagte
William ganz ruhig. »Tja, hm, morgen muss ich erst mal mit der Sterblichkeit
anderer Leute zu Rande kommen«, sagte ich. Und zu Henry gewandt, setzte ich
hinzu: »Morley Shines Trauerfeier.«
»Ein Freund von Ihnen?«
»Ein Detektiv-Kollege hier aus der
Stadt«, sagte ich. »Er war früher mit dem Mann befreundet, der mich ausgebildet
hat, daher kannte ich ihn seit vielen Jahren.«
»Starb er in Ausübung seiner Pflicht?«,
fragte William.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht direkt.
Er hatte am Sonntagabend einen tödlichen Herzinfarkt.« Sobald es draußen war,
wünschte ich, ich hätte die Klappe gehalten. Ich sah Williams Hand an seine
Brust fahren.
Er sagte: »Und wie alt war der Mann?«
»Achgottchen, ich weiß gar nicht.«
Natürlich log ich. Morley war gut zwanzig Jahre jünger gewesen als William.
»Oho, da ist ja Rosie.« Wenn es sein muss, kann ich Munterkeit verbreiten, dass
es kracht.
Rosie war gerade aus der Küche
aufgetaucht und schaute quer durch die Gaststube zu uns herüber. Sie näherte
sich mit entschlossener Miene. Als sie an der Bar vorbeikam, stellte sie den
Fernseher leise. Henry und ich wechselten bedeutsame Blicke. Sicher dachte er
das Gleiche wie ich: Sie würde sich um William kümmern, und
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