Driver
Vierzigern«, kommentierte Shannon seine Wohnung. »In welchem Apartment wohnt denn Philip Marlowe?« Doch wenn man draußen auf dem Balkon saß, hörte man erheblich mehr Spanisch als Englisch.
Er war gerade die Treppe hochgekommen, als die Wohnungstür neben seiner geöffnet wurde und eine Frau in perfektem Englisch, aber mit dem unverkennbar singenden Tonfall von jemandem, dessen Muttersprache Spanisch ist, fragte, ob er vielleicht Hilfe brauche.
Als er sie sah, eine Latina ungefähr seines Alters, rabenschwarze Haare, leuchtende Augen, da wünschte er sich, dass er tatsächlich Hilfe brauchte. Aber was er in den Armen hielt, war so ziemlich alles, was er besaß.
»Wie wär’s dann mit einem Bier?« fragte sie, als er es zugab. »Das hilft, sich von der Schlepperei zu erholen.«
»Klingt nicht schlecht.«
»Gut. Ich heiße Irina. Kommen Sie rüber, wenn Sie so weit sind. Ich lehne die Tür nur an.«
Minuten später betrat er ihre Wohnung, tatsächlich ein Spiegelbild seines eigenen Apartments. Gedämpfte Musik im Dreivierteltakt, er hörte ein Akkordeon heraus und immer wieder das Wort corazon. Driver erinnerte sich, wie ein Jazzmusiker einmal behauptet hatte, nichts käme dem Rhythmus des menschlichen Herzens näher als der Walzertakt. Auf einer Couch, identisch mit seiner eigenen, nur erheblich sauberer, saß Irina und sah sich auf einem der spanischsprachigen TV-Kanäle eine Seifenoper an. Telenovelas nannten sie die. Wären der totale Renner.
»Falls Sie eins wollen, Bier steht hier auf dem Tisch.«
»Danke.«
Als er sich neben ihr auf der Couch niederließ, roch er ihr Parfum, roch die Seife und das Shampoo und den Duft ihres Körpers, zart und gleichzeitig intensiv.
»Neu in der Stadt?« fragte sie.
»Bin schon ein paar Monate hier. Hab bis jetzt bei einem Freund gewohnt.«
»Woher kommen Sie?«
»Tucson.«
Da er mit den üblichen Bemerkungen über Cowboys gerechnet hatte, war er überrascht, als sie sagte: »Ein paar Onkel von mir leben mit ihren Familien dort. Ich glaube, in South Tucson. Hab sie schon Jahre nicht mehr gesehen.«
»South Tucson, das ist eine Welt für sich.«
»Genau wie L. A. oder?«
Für ihn traf das zu.
Für sie wohl auch.
Oder für dieses Kind, das jetzt verschlafen aus dem Schlafzimmer gewankt kam.
»Ihrer?« fragte er.
»Ja, die gehören irgendwie zu den Wohnungen dazu. Hier wimmelt’s nur so von Kakerlaken und Kindern. Sehen Sie besser mal bei sich unterm Schrank nach.«
Sie stand auf und hob das Kind auf einen Arm.
»Das ist Benicio.«
»Ich bin vier«, sagte der Junge.
»Und sehr störrisch, was das Schlafengehen betrifft.«
»Wie alt bist du?« fragte Benicio.
»Gute Frage. Kann ich meine Mom anrufen und das mit ihr abklären?«
»Und in der Zwischenzeit«, sagte Irina, »besorgen wir dir in der Küche einen Keks und ein Glas Milch.«
Minuten später kehrten sie zurück.
»Und?« fragte Benicio.
»Zwanzig, fürchte ich«, antwortete Driver. War er nicht, aber das sagte er, wenn er danach gefragt wurde.
»Ganz schön alt.«
»Tut mir leid. Aber vielleicht können wir trotzdem Freunde werden?«
»Vielleicht.«
»Lebt Ihre Mutter noch?« erkundigte sich Irina, nachdem sie den Jungen wieder ins Bett gebracht hatte.
Einfacher, es zu verneinen, als die ganze Sache zu erklären.
Sie sagte, es tue ihr leid, und fragte nur Sekunden später, womit er sich seine Brötchen verdiene.
»Sie zuerst.«
»Hier im Gelobten Land? Eine Drei-Sterne-Karriere. Montags bis freitags kellnere ich in einem salvadorianischen Restaurant am Broadway für den Mindestlohn plus Trinkgeld – meist von Leuten, denen es kaum besser geht als mir. An drei Abenden die Woche jobbe ich als Hausmädchen in Brentwood. An den Wochenenden putze ich in Bürogebäuden. Jetzt sind Sie dran.«
»Ich bin beim Film.«
»Na klar.«
»Ich bin Fahrer.«
»Wie, für Limousinen?«
»Ich bin Stuntfahrer.«
»Sie meinen Verfolgungsjagden und so?«
»Genau.«
»Wow. Da verdienen Sie bestimmt gutes Geld.«
»Nicht wirklich. Aber es ist ein fester Job.«
Driver erzählte ihr, wie Shannon ihn unter seine Fittiche genommen hatte, wie er ihm alles beigebracht und die ersten Jobs vermittelt hatte.
»Sie haben Glück, dass Sie so jemanden in Ihrem Leben haben. Hatte ich nie.«
»Was ist mit Benicios Vater?«
»Wir waren ungefähr zehn Minuten verheiratet. Sein Name ist Standard Guzman. Als ich ihn gerade kennen gelernt hatte, hab ich ihn gefragt: ›Und, gibt’s auch noch irgendwo einen
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