Drop City
lebenswichtig –, und zwar weniger, um sie zu beruhigen, als um sie wissen zu lassen, daß sie schaffen konnte, worin die Mutter versagt hatte, daß sie genau wußte, was sie tat, und es entwickelte sich alles prima, ach was, besser als prima. Sie war glücklich. Beschwingt. Und ihre Mutter sollte das wissen.
Ihrer Mutter schien Sess durchaus gefallen zu haben, doch die Idee vom Leben in der Wildnis hatte sie von Anfang an argwöhnisch betrachtet. »All das hab ich zur Genüge erlebt, als ihr klein wart und euer Vater jeden Sommer auf Goldsuche gegangen ist«, sagte sie, und es war wie eine Litanei, die Pamela Wort für Wort hätte nachleiern können. »Na ja, für euch Mädchen mag das ja ganz lustig gewesen sein, aber für mich war es eher belastend: am offenen Feuer für vier Leute kochen, die halbe Nacht wach liegen und nach den Moskitos schlagen, sich fragen, ob er auch diesmal wieder zurückkommt, ob er sich nicht ein Bein gebrochen hat oder von einem Bären angegriffen worden oder beim Durchwaten eines Baches ertrunken ist – und das war am allerschlimmsten: sich vorzustellen, wie er da irgendwo herumtrieb wie ein vollgesogenes Stück Fleisch, Futter für die Raben und die Ameisen ...«
Pamela war einKind damals, gerade mal acht, als sie zum erstenmal in die Wildnis zogen, und ihre Erinnerungen an diese Zeit waren glücklich. Sie wußte noch, wie sie zu dritt – sie und ihre Mutter und Pris – gemütlich in dem großen Steilwandzelt gelegen hatten, während der Regen die Zeltbahnen in eine wahre Latino-Rhythmusgruppe verwandelte und ihre Mutter die Karten für Binokel, Poker, Herzchen oder Whist austeilte, während der Duft nach Kaninchen in Ingwermarmelade oder nach Eichhörnchenschmortopf bis in die letzten Winkel drang. Es gab Haferkekse, fest und süß auf dem Campingofen gebacken, Schoko-Nuß-Kuchen, ja, sogar Torten. Sie las alles von Nancy Drew, den Schwestern Brontë und Conan Doyle. Sie gingen baden, angeln, Kanu fahren, und den ganzen Juni und den halben September unterrichtete die Mutter sie und Pris in Mathematik, Grammatik und Aufsatzschreiben über Andrew »Stonewall« Jackson und Thomas Paine. Es war eine Art Traum. Und wie in einem Traum überkamen sie die Erinnerungen in Bruchstücken aus Farben und Gefühlen, ein Augenblick glitt in den nächsten in einer Montage aus jenen sechs Sommern, bis ihr Vater eines Tages aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt war.
Sie wußte nicht genau, wie lange sie den Laden durchwandert und einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand genommen hatte, als hätte sie Dinge wie Türscharniere oder Leistenstifte noch nie im Leben gesehen, als ein leises, beinahe entschuldigendes Hupen draußen vor dem Geschäft sie zur Ordnung rief. Durch das Fenster sah sie einen Wagen – weiß mit blauen Streifen, eine Art Rennauto, das völlig fehl am Platze war in einer Ortschaft, wo man seine Fahrzeuge behandelte wie Schlittenhunde, und wer keinen Pickup besaß, der hatte einen Kombi. Zuerst dachte sie, der Mann am Steuer müsse ein Tourist aus Anchorage oder aus einem der südlichen achtundvierzig Staaten sein, aber er schien ihr durch die Windschutzscheibe Zeichen zu geben, und da war wieder dieses Hupen, beharrlich, bedeutungsvoll, ja vertraut. Es dauerte einen Moment, dann mußte sie lachen, weil sie nicht einmal den eigenen Ehemann erkannte, denn er war es, beugte sich jetzt aus dem Fenster und winkte sie mit den drängenden gekrümmten Fingern beider Hände zu sich. Na schön. Aber da stand sie nun genau vor dem sorgfältig ausgepreisten Karton mit Hershey-Schokoriegeln, kein Ladenbesitzer in Sicht und eine lange Fahrt vor Augen. Sie nahm zwei Stück, ohne nachzudenken, und war schon fast an der Tür, als sie sich zusammenriß. Und obwohl Sess noch zweimal auf die Hupe drückte, drehte sie sich um, huschte den Gang entlang zur Registrierkasse auf der hinteren Ladentheke und legte zwei Vierteldollarmünzen hin.
Draußen, bei Tageslicht, wirkte das Auto noch absonderlicher, als wäre es hier im Herzen Alaskas von irgendeinem verrückt gewordenen Rennstallteam abgesetzt worden, das sich einen dieser riesigen Huey-Transporthubschrauber ausgeliehen hatte, wie man sie in Kriegsberichten im Fernsehen sah. Es paßte einfach nicht zusammen – ein Rennwagen in Boynton, zweihundertsechzig Kilometer entfernt von der nächsten asphaltierten Straße. Sie rutschte auf den Beifahrersitz und reichte Sess einen Schokoriegel, während er bereits den Gang einlegte und ein paar
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