Drop City
Ritual ein Aufbruch. »Nach Norden«, sagte Marco. »Hey, das ist echt stark, Alter«, fügte er hinzu, »einfach irre«, dann fuhren sie los, und aus dem Radio fetzte der elektrische Sturmangriff von Rockmusik.
Die sichtbare Welt flog volle sechzig Sekunden lang an ihnen vorbei, ehe der Fahrer sich zu ihm umdrehte und gegen die Musik anschrie: »Nach Norden? Verdammt allgemeine Richtungsangabe. Woran dachtest du denn so – vielleicht Sitka, Alaska? Oder Nome? Wie wär’s mit der Werkstatt des Weihnachtsmanns? Den Weihnachtsmann kriegen wir hin.«
Marco grinste ihn nur an. »Eigentlich wollte ich nach Sonoma rauf – kennst du die Drop City Ranch?«
»Drop City? Du meinst diese Hippiekommune? Wo sie alle nackig rumlaufen und den ganzen Tag lang nur bumsen und Dope rauchen? Auf so was fährst du ab?«
Marco überlegte. Dieser Typ könnte sonstwer sein – zum Beispiel ein Zivilbulle oder ein Nazi oder ein Börsenmakler, sogar der Oberscherge von der Einberufungsbehörde. Aber der Bart – der Bart verriet ihn einfach. »Klar, Mann«, sagte Marco, »genau darauf fahr ich ab.«
Es konnte nicht lange nach zwölf gewesen sein, als sie durch den Viehzaun rollten und dann in den tiefen Fahrrillen der Schotterstraße zum Haupthaus rumpelten. Es war die absolut irrste Mitfahrgelegenheit, eine Fahrt, die einen geradewegs an die Veranda und bis zur Eingangstür führte, und Marco hatte schweigend in dem VW-Bus gesessen, ganz Ohr, als Norm Sender auf seine Antwort hin losbrüllte: »Gute Antwort, Bruder« und dann mit einem halbstündigen Vortrag über sein Lieblingsthema – sein einziges Thema – loslegte: Drop City.
Er war auf irgendwas drauf – Speed wahrscheinlich, so wie er aussah und drauflosbrabbelte –, aber das spielte weiter keine Rolle für Marcos Einschätzung, weil praktisch jeder, dem er in den letzten zwei Jahren begegnet war, entweder high war oder gerade von irgendeinem Trip runterkam, und ihm selbst war es wohl ebenso ergangen, öfter, als er selbst zugegeben hätte. Zu Anfang, mit neunzehn, zwanzig, da war es eine Sache des Angebens – Aha, du hast also bei dem Konzert DMT eingeworfen und dann noch O geraucht? Echt cool, aber ich drücke seit neustem, Mann, das isses für mich. Und Acid. Logisch, Acid. Aber da geht’s mir nicht um Bewußtseinserweiterung oder irgendwelchen mystischen Quatsch – ich will nur gut draufsein, Alter, alles klar? –, aber inzwischen wiederholten sich die Dinge. Wie viele solcher Unterhaltungen hatte er schon geführt? Zehn Millionen, heiße Luft rein, heiße Luft raus. Trotzdem, als Norm Sender einen Joint anrauchte und ihm hinüberreichte, nahm er ihn und zog daran. So machte man das eben. Das war das Ritual.
Sie saßen da, starrten durch die Windschutzscheibe und rauchten. Als der Joint runtergebrannt war, zündete Norm eine Zigarette an und reichte auch die an Marco weiter; Marco nahm einen Zug und gab sie zurück. Die Straße war wie jede andere Landstraße, brennende Seide in feurigem Glanz, die Bäume rasten vorbei wie Tiefflieger. Marco lehnte sich zurück und ließ den Bus schaukeln und ruckeln, auch als der Rauch die Fenster vernebelte und Norm sich ständig die Brille zurechtschob, als wäre das Gestell voller Öl. Er trug einen Gürtel aus geflochtenem Seil, der aber seinen mächtigen Schmerbauch nicht bändigen konnte, aus den Ohren und Nasenlöchern wuchsen ihm schwarze Stoppelhaare, und seine Arme waren viel weißer, als man es bei Leuten vom Land erwartet hätte. Er redete, und Marco hörte zu, seine Stimme war ein heiseres Keifen, das durch die Lärmsuppe aus dem Radio drang und vom Brummen des Motors abprallte.
»Also meine Eltern, ja?« (Dies kam als Auftakt, obwohl Marco kein Wort über irgend jemandes Eltern gesagt hatte – sie hatten nur ein bißchen gequatscht, guter Stoff und echt stark und so weiter, und im Radio war nichts als Rauschen gekommen, während Norm mit seinen ramponierten Wurstfingern daran herumgedreht hatte.) »Also, meine Alte, die mich gestillt hat, und mein alter Dreckskerl von Spießervater, ja? Die sind abgekratzt. Rumsdiebums. Frontalzusammenstoß mit einem Lastwagen voller 1-a-Grillpoularden, der auf der 116 von Petaluma unterwegs war, und das mag vielleicht witzig klingen, aber es ist nicht witzig, denn der alte Kacker war sturzbesoffen, und meine Mutter hätte was Besseres verdient gehabt, aber jedenfalls kriegte ihr Sohn und Erbe – das bin ich, mit Verlaub – die Ranch in den Bergen, aber ich fand das einfach
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