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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Polarlicht sehen.«
    Später, als die Flammen ihre Bocksprünge in das schwarze Gewölbe des Himmels vollführten und das Wort Alaska aus den Kohlen herauszischte – Alaska, Alaska , das einzige Wort, das an diesem Abend jeder wissen mußte, der Prüfstein, die Zukunft –, da entspannte sich Star im Griff dessen, was offenbar soeben mit ihr geschah. Sie nippte an einem Saftglas mit Rotwein, stand am Rande des Feuers und sah den Leuchtspurgeschossen nach, diein die Nacht abhoben. Sie fühlte sich ruhig und gelassen, als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen, so wie sie sich immer fühlte, wenn sie endlich eine Entscheidung getroffen hatte. So wie mit Ronnie. Sie erinnerte sich noch, wie sie mit ihm aus Peterskill abgehauen war, auf dem Rücksitz Bücher, Schallplatten und Papiertüten voller Lebensmittel, zwei Schlafsäcke, Küchengeräte, und das Zuhause, das sie drei Viertel ihres Lebens gehabt hatte, wurde im Rückspiegel rasch kleiner, bis ihnen dann ihre Mutter barfuß auf der Straße nachrannte und ihr, für alle Welt hörbar, hinterherbrüllte, sie werfe ihr Leben weg. Das Gesicht ihrer Mutter hing ihr nach, auch als sie um die Ecke gebogen waren, und sie konnte es auch jetzt wieder sehen, den feuchten Glanz ihrer Augen und all die Furchen und Falten eines langen Arbeitstages und einer langen, vom Kummer mobilisierten Arbeitswoche – Paulette! Du wirfst dein Leben in den Dreck, Leben in den Dreck! –, doch sie, Paulette, war damals ebenfalls ganz ruhig gewesen. Sie hatte sich entschlossen wegzugehen, und das war’s eben.
    Der gekühlte süße Wein kitzelte ihre Kehle und verdichtete ihr Kopfweh, bis es als kleiner schwarzer Hartgummiball irgendwo in einem hinteren Winkel ihres Kopfs zur Ruhe kam. Sie stand in einem Grüppchen – Marco, Norm, Alfredo, Reba, Harmony, Deuce, alle redeten zugleich, redeten über Logistik, redeten über Alaska –, schloß die Augen und ließ sich von der sprudelnden Welle treiben, die Drop City erfaßt hatte, auch jetzt, als der Mittsommertag längst vorbei und zum Tag nach dem Mittsommertag geworden war – denn auch der war ein Feiertag. Sicher doch. Hatten sie etwa kein Freudenfeuer? Hatten sie nicht genug Drogen, Wein, Bier? Und würden sie nicht tanzen bis zum Umfallen?
    Kurz bevor das Feuer angezündet wurde, als sie alle draußen standen, um Norm die zeremonielle Fackel schwingen zu sehen und einer weiteren raketengetriebenen Ansprache zu lauschen – Einen Teil von uns selbst, Leute, laßt uns alle ans Feuer treten und einen Teil von uns selbst in diesen Scheiterhaufen zum Begräbnis des alten Drop City werfen! –, hatte Merry vom oberen Regalbrett in der Küche zwischen dem Mutter-Erde-Katalog und Freude am Kochen den Atlas heruntergeholt. Star kam gerade in die Küche, um sich nachzuschenken, und Lydia und Maya waren auch dort, zerdrückten Avocados für eine Guacamole, und so standen sie alle um den Küchentisch und sahen Merry mit dem Finger über die Karte von Alaska fahren, bis sie an dem tiefblauen Fluß den kleinen schwarzen Punkt fand, der Boynton markierte. »Da ist es«, sagte sie, »Drop City Nord«, und sie beugten sich alle vor, um zu überprüfen, daß es stimmte, daß es ein Ort wie jeder andere war, ein Reiseziel. »Und seht mal«, fügte Merry hinzu, indem sie die Entfernung mit dem Fingernagel abmaß, »hier ist Fairbanks. Und wow, da ist Nome .«
    Niemand sagte etwas, doch alle schienen vom selben Fieber erfaßt. Jede von ihnen war gereist, um auf die Ranch zu gelangen – das gehörte mit dazu, sich das Land anzusehen, die Welt anzusehen, bevor man einschrumpelte und abstarb wie die eigenen Eltern. Lydia stammte ursprünglich aus Sacramento, aber sie war schon in Puerto Vallarta, auf Key West und Nova Scotia gewesen, und Maya hatte es geschafft, den weiten Weg aus Chicago herüberzutrampen. Merry kam aus Iowa, und Star war quer durch die Präriestaaten, durch die Rockys und die Wüste gefahren – die vielen staubbraunen Kilometer –, aber das war noch gar nichts, überhaupt nichts. Hier bot sich die Chance, vom Rand der Landkarte zu fallen, den allerletzten und allerbesten Ort der Erde zu sehen und sich für immer das Recht auf Prahlerei zu sichern. Aha, du warst also auf Bali, an der Riviera und in der Elfenbeinküste? Soso. Also, ich war in Alaska.
    Aber wo blieb die Musik? Wollten sie nicht tanzen? Hatte Norm das nicht gesagt – wir werden tanzen, wie noch nie jemand getanzt hat ? Bei dem Gedanken riß Star die Augen auf, und als

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