Drucke zu Lebzeiten
fanden sich manchmal
nächtliche Wachgruppen, welche die Bewachung sehr
lax durchführten, absichtlich in eine ferne Ecke sich zu-
sammensetzten und dort sich ins Kartenspiel vertieen,
in der offenbaren Absicht, dem Hungerkünstler eine
kleine Erfrischung zu gönnen, die er ihrer Meinung nach
aus irgendwelchen geheimen Vorräten hervorholen
konnte. Nichts war dem Hungerkünstler quälender als
solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie machten
ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal über-
wand er seine Schwäche und sang während dieser Wach-
zeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen,
wie ungerecht sie ihn verdächtigten. Doch half das we-
nig; sie wunderten sich dann nur über seine Geschick-
lichkeit, selbst während des Singens zu essen. Viel lieber
waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter
[ ]
setzten, mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich
nicht begnügten, sondern ihn mit den elektrischen Ta-
schenlampen bestrahlten, die ihnen der Impresario zur
Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht,
schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein wenig
hindämmern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung
und zu jeder Stunde, auch im übervollen, lärmenden
Saal. Er war sehr gerne bereit, mit solchen Wächtern die
Nacht gänzlich ohne Schlaf zu verbringen; er war bereit,
mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten aus seinem
Wanderleben zu erzählen, dann wieder ihre Erzählungen
anzuhören, alles nur um sie wachzuhalten, um ihnen
immer wieder zeigen zu können, daß er nichts Eßbares
im Käfig hatte und daß er hungerte, wie keiner von ih-
nen es könnte. Am glücklichsten aber war er, wenn dann
der Morgen kam, und ihnen auf seine Rechnung ein
überreiches Frühstück gebracht wurde, auf das sie sich
warfen mit dem Appetit gesunder Männer nach einer
mühevoll durchwachten Nacht. Es gab zwar sogar Leute,
die in diesem Frühstück eine ungebührliche Beeinflus-
sung der Wächter sehen wollten, aber das ging doch zu
weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der
Sache willen ohne Frühstück die Nachtwache überneh-
men wollten, verzogen sie sich, aber bei ihren Verdächti-
gungen blieben sie dennoch.
Dieses allerdings gehörte schon zu den vom Hungern
überhaupt nicht zu trennenden Verdächtigungen. Nie-
[ ]
mand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim
Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu ver-
bringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung
wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert
worden war; nur der Hungerkünstler selbst konnte das
wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern
vollkommen befriedigte Zuschauer sein. Er aber war
wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt;
vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgema-
gert, daß manche zu ihrem Bedauern den Vorführungen
fernbleiben mußten, weil sie seinen Anblick nicht ertru-
gen, sondern er war nur so abgemagert aus Unzufrie-
denheit mit sich selbst. Er allein nämlich wußte, auch
kein Eingeweihter sonst wußte das, wie leicht das Hun-
gern war. Es war die leichteste Sache von der Welt. Er
verschwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht,
hielt ihn günstigstenfalls für bescheiden, meist aber für
reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das
Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu
machen verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es
halb zu gestehn. Das alles mußte er hinnehmen, hatte
sich auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber inner-
lich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm, und
noch niemals, nach keiner Hungerperiode – dieses Zeug-
nis mußte man ihm ausstellen – hatte er freiwillig den
Käfig verlassen. Als Höchstzeit für das Hungern hatte
der Impresario vierzig Tage festgesetzt, darüber hinaus
[ ]
ließ er niemals hungern, auch in den Weltstädten nicht,
und zwar aus gutem Grund. Vierzig Tage etwa konnte
man erfahrungsgemäß durch allmählich sich steigernde
Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufsta-
cheln, dann aber versagte das Publikum, eine wesentli-
che Abnahme des Zuspruchs war festzustellen; es be-
standen natürlich in dieser Hinsicht kleine Unterschiede
zwischen den Städten und Ländern, als Regel aber galt,
daß vierzig Tage die Höchstzeit war. Dann also am
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