Drucke zu Lebzeiten
vier-
zigsten Tage wurde die Tür des mit Blumen umkränzten
Käfigs geöffnet, eine begeisterte Zuschauerscha erfüllte
das Amphitheater, eine Militärkapelle spielte, zwei Ärz-
te betraten den Käfig, um die nötigen Messungen am
Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon
wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließ-
lich kamen zwei junge Damen, glücklich darüber, daß
gerade sie ausgelost worden waren, und wollten den
Hungerkünstler aus dem Käfig ein paar Stufen hinab-
führen, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgfältig
ausgewählte Krankenmahlzeit serviert war. Und in die-
sem Augenblick wehrte sich der Hungerkünstler immer.
Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die
hilfsbereit ausgestreckten Hände der zu ihm hinabge-
beugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum
gerade jetzt nach vierzig Tagen auören? Er hätte es
noch lange, unbeschränkt lange ausgehalten; warum ge-
rade jetzt auören, wo er im besten, ja noch nicht ein-
[ ]
mal im besten Hungern war? Warum wollte man ihn des
Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der
größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja
wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu
übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähig-
keit zu hungern fühlte er keine Grenzen. Warum hatte
diese Menge, die ihn so sehr zu bewundern vorgab, so
wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt, noch weiter
zu hungern, warum wollte sie es nicht aushalten? Auch
war er müde, saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch
und lang aufrichten und zu dem Essen gehn, das ihm
schon allein in der Vorstellung Übelkeiten verursachte,
deren Äußerung er nur mit Rücksicht auf die Damen
mühselig unterdrückte. Und er blickte empor in die Au-
gen der scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so
grausamen Damen und schüttelte den auf dem schwa-
chen Halse überschweren Kopf. Aber dann geschah, was
immer geschah. Der Impresario kam, hob stumm – die
Musik machte das Reden unmöglich – die Arme über
dem Hungerkünstler, so, als lade er den Himmel ein,
sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn,
diesen bedauernswerten Märtyrer, welcher der Hun-
gerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn;
faßte den Hungerkünstler um die dünne Taille, wobei
er durch übertriebene Vorsicht glaubha machen woll-
te, mit einem wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun
habe; und übergab ihn – nicht ohne ihn im geheimen
[ ]
ein wenig zu schütteln, so daß der Hungerkünstler mit
den Beinen und dem Oberkörper unbeherrscht hin und
her schwankte – den inzwischen totenbleich geworde-
nen Damen. Nun duldete der Hungerkünstler alles; der
Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er hingerollt und
halte sich dort unerklärlich; der Leib war ausgehöhlt;
die Beine drückten sich im Selbsterhaltungstrieb fest in
den Knien aneinander, scharrten aber doch den Boden,
so, als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen suchten
sie erst; und die ganze, allerdings sehr kleine Last des
Körpers lag auf einer der Damen, welche hilfesuchend,
mit fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt
nicht vorgestellt – zuerst den Hals möglichst streckte,
um wenigstens das Gesicht vor der Berührung mit dem
Hungerkünstler zu bewahren, dann aber, da ihr dies
nicht gelang und ihre glücklichere Gefährtin ihr nicht zu
Hilfe kam, sondern sich damit begnügte, zitternd die
Hand des Hungerkünstlers, dieses kleine Knochenbün-
del, vor sich herzutragen, unter dem entzückten Geläch-
ter des Saales in Weinen ausbrach und von einem längst
bereitgestellten Diener abgelöst werden mußte. Dann
kam das Essen, von dem der Impresario dem Hunger-
künstler während eines ohnmachtähnlichen Halbschla-
fes ein wenig einflößte, unter lustigem Plaudern, das die
Aufmerksamkeit vom Zustand des Hungerkünstlers ab-
lenken sollte; dann wurde noch ein Trinkspruch auf das
Publikum ausgebracht, welcher dem Impresario angeb-
[ ]
lich vom Hungerkünstler zugeflüstert worden war; das
Orchester bekräigte alles durch einen großen Tusch,
man ging auseinander, und niemand hatte das Recht, mit
dem Gesehenen unzufrieden zu sein, niemand, nur der
Hungerkünstler, immer nur er.
So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele
Jahre, in
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