Drucke zu Lebzeiten
Künstler sich in einen ruhigen Zirkusposten flüchten
wolle, im Gegenteil, der Hungerkünstler versicherte,
daß er, was durchaus glaubwürdig war, ebensogut hun-
gere wie früher, ja er behauptete sogar, er werde, wenn
man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man
ihm ohne weiteres, eigentlich erst jetzt die Welt in be-
rechtigtes Erstaunen setzen, eine Behauptung allerdings,
die mit Rücksicht auf die Zeitstimmung, welche der
Hungerkünstler im Eifer leicht vergaß, bei den Fachleu-
ten nur ein Lächeln hervorrief.
Im Grunde aber verlor auch der Hungerkünstler den
Blick für die wirklichen Verhältnisse nicht und nahm es
als selbstverständlich hin, daß man ihn mit seinem Käfig
nicht etwa als Glanznummer mitten in die Manege stell-
te, sondern draußen an einem im übrigen recht gut zu-
gänglichen Ort in der Nähe der Stallungen unterbrachte.
Große, bunt gemalte Aufschrien umrahmten den Käfig
und verkündeten, was dort zu sehen war. Wenn das Pu-
blikum in den Pausen der Vorstellung zu den Ställen
drängte, um die Tiere zu besichtigen, war es fast unver-
meidlich, daß es beim Hungerkünstler vorüberkam und
ein wenig dort haltmachte, man wäre vielleicht länger
bei ihm geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang
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die Nachdrängenden, welche diesen Aufenthalt auf dem
Weg zu den ersehnten Ställen nicht verstanden, eine län-
gere ruhige Betrachtung unmöglich gemacht hätten.
Dieses war auch der Grund, warum der Hungerkünstler
vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck
natürlich herbeiwünschte, doch auch wieder zitterte. In
der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum
erwarten können; entzückt hatte er der sich heranwäl-
zenden Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald –
auch die hartnäckigste, fast bewußte Selbsttäuschung
hielt den Erfahrungen nicht stand – davon überzeugte,
daß es zumeist der Absicht nach, immer wieder, aus-
nahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser An-
blick von der Ferne blieb noch immer der schönste.
Denn wenn sie bis zu ihm herangekommen waren, um-
tobte ihn sofort Geschrei und Schimpfen der ununter-
brochen neu sich bildenden Parteien, jener, welche – sie
wurde dem Hungerkünstler bald die peinlichere – ihn
bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verständnis, son-
dern aus Laune und Trotz, und jener zweiten, die zu-
nächst nur nach den Ställen verlangte. War der große
Haufe vorüber, dann kamen die Nachzügler, und diese
allerdings, denen es nicht mehr verwehrt war, stehen zu
bleiben, solange sie nur Lust hatten, eilten mit langen
Schritten, fast ohne Seitenblick, vorüber, um rechtzeitig
zu den Tieren zu kommen. Und es war kein allzu häufi-
ger Glücksfall, daß ein Familienvater mit seinen Kindern
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kam, mit dem Finger auf den Hungerkünstler zeigte,
ausführlich erklärte, um was es sich hier handelte, von
früheren Jahren erzählte, wo er bei ähnlichen, aber un-
vergleichlich großartigeren Vorführungen gewesen war,
und dann die Kinder, wegen ihrer ungenügenden Vorbe-
reitung von Schule und Leben her, zwar immer noch
verständnislos blieben – was war ihnen Hungern? – aber
doch in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von
neuen, kommenden, gnädigeren Zeiten verrieten. Viel-
leicht, so sagte sich der Hungerkünstler dann manchmal,
würde alles doch ein wenig besser werden, wenn sein
Standort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre. Den
Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht
zu reden davon, daß ihn die Ausdünstungen der Ställe,
die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorübertragen
der rohen Fleischstücke für die Raubtiere, die Schreie
bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd bedrück-
ten. Aber bei der Direktion vorstellig zu werden, wagte
er nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge
der Besucher, unter denen sich hie und da auch ein für
ihn Bestimmter finden konnte, und wer wußte, wohin
man ihn verstecken würde, wenn er an seine Existenz
erinnern wollte und damit auch daran, daß er, genau
genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Stäl-
len war.
Ein kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner
werdendes Hindernis. Man gewöhnte sich an die Son-
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derbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für
einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und
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