Drucke zu Lebzeiten
mit
dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen.
Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat
es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm
vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu er-
klären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht be-
greiflich machen. Die schönen Aufschrien wurden
schmutzig und unleserlich, man riß sie herunter, nie-
mandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit
der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten
Zeit sorgfältig täglich erneut worden war, blieb schon
längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen
war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig
geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler
weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte, und es
gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals voraus-
gesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand,
nicht einmal der Hungerkünstler selbst wußte, wie groß
die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer.
Und wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehen
blieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und von
Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümm-
ste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bös-
artigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hungerkünst-
ler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn
um seinen Lohn.
[ ]
Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm
ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und
er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauch-
baren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenutzt
stehen lasse; niemand wußte es, bis sich einer mit Hilfe
der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man
rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hunger-
künstler darin. „Du hungerst noch immer?“ fragte der
Aufseher, „wann wirst du denn endlich auören?“
„Verzeiht mir alle“, flüsterte der Hungerkünstler; nur
der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn.
„Gewiß“, sagte der Aufseher und legte den Finger an die
Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem
Personal anzudeuten, „wir verzeihen dir.“ „Immerfort
wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert“, sagte der
Hungerkünstler. „Wir bewundern es auch“, sagte der
Aufseher entgegenkommend. „Ihr sollt es aber nicht be-
wundern“, sagte der Hungerkünstler. „Nun, dann be-
wundern wir es also nicht“, sagte der Aufseher, „warum
sollen wir es denn nicht bewundern?“ „Weil ich hungern
muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkünstler.
„Da sieh mal einer“, sagte der Aufseher, „warum kannst
du denn nicht anders?“ „Weil ich“, sagte der Hunger-
künstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit
wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des
[ ]
Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich
nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte
ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen
gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ Das
waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebroche-
nen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze
Überzeugung, daß er weiterhungre.
„Nun macht aber Ordnung!“ sagte der Aufseher, und
man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den
Käfig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine
selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem
so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwer-
fen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm
schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die
Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermis-
sen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zer-
reißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit
sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu
stecken; und die Freude am Leben kam mit derart star-
ker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer
nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie überwanden
sich, umdrängten den Käfig und wollten sich gar nicht
fortrühren.
[ ]
Josefine, die Sängerin
oder
Das Volk der Mäuse
Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat,
kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden,
den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu be-
werten ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht
liebt. Stiller
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