Drucke zu Lebzeiten
er sich nicht für fähig hält, freie Tage zu ertragen; Samuel
muß von seiner (überdies erfolgreichen und sehr geschätzten)
Arbeit leben.
Die beiden, obwohl Schulkollegen, sind während dieser be-
schriebenen Reise zum erstenmal andauernd mit einander allein.
Sie schätzen einander, obwohl sie einander unbegreiflich erschei-
nen. Anziehung und Abstoßung wird vielartig gefühlt. Es wird
beschrieben, wie sich dieses Verhältnis zunächst zu überhitzter
Intimität anstachelt, dann nach manchen Zwischenfällen auf dem
gefährlichen Boden von Mailand und Paris in männliches Ver-
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ständnis gegenseitig beruhigt und ganz befestigt. Die Reise
schließt damit, daß die beiden Freunde ihre Fähigkeiten zu einem
neuen eigenartigen Kunstunternehmen vereinigen.
Die vielen Nuancen, deren Freundschasbeziehungen zwi-
schen Männern fähig sind, darzustellen und zugleich die berei-
sten Länder durch eine widerspruchsvolle Doppelbeleuchtung in
einer Frische und Bedeutung sehn zu lassen, wie sie o mit Un-
recht nur exotischen Gegenden zugeschrieben werden: ist der
Sinn dieses Buches.
Die erste lange Eisenbahnfahrt (Prag–Zürich)
Samuel: Abfahrt . VIII. Mittag Uhr Min.
Richard: Beim Anblick Samuels, der in seinen be-
kannten winzigen Taschenkalender etwas Kurzes ein-
trägt, habe ich wieder die alte schöne Idee, jeder von uns
solle ein Tagebuch über diese Reise führen. Ich sage es
ihm. Er lehnt zuerst ab, dann stimmt er zu, er begründet
beides, ich verstehe es beidemal nur oberflächlich, aber
das macht nichts, wenn wir nur Tagebücher führen wer-
den. – Jetzt lacht er schon wieder über mein Notizbuch,
welches allerdings, in Glanzleinen schwarz eingebun-
den, neu, sehr groß, quadratisch, eher einem Schulhe
ähnelt. Ich sehe voraus, daß es schwer und jedenfalls
lästig sein wird, dieses He während der ganzen Reise in
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der Tasche zu tragen. Übrigens kann ich mir auch in
Zürich mit ihm zugleich ein praktisches kaufen. Er hat
auch eine Füllfeder. Ich werde mir sie hie und da aus-
borgen.
Samuel: In einer Station unserem Fenster gegenüber
ein Waggon mit Bäuerinnen. Im Schöße einer, die lacht,
schlä eine. Aufwachend winkt sie uns, unanständig in
ihrem Halbschlaf: „Komm“. Als verspotte sie uns, weil
wir nicht hinüberkönnen. Im Nebenkoupee eine dunkle,
heroische, ganz unbeweglich. Den Kopf tief zurückge-
lehnt schaut sie entlang der Scheibe hinaus. Delphische
Sibylle.
Richard: Aber was mir nicht gefällt, ist sein anknüp-
fenscher, fälschlich Vertrautheit vorgebender, fast liebe-
dienerischer Gruß an die Bäuerinnen. Nun setzt sich gar
der Zug in Bewegung und Samuel bleibt mit seinem zu
groß angefangenen Lächeln und Mützeschwenken allein.
– Übertreibe ich nicht? – Samuel liest mir seine erste
Bemerkung vor, sie macht auf mich einen großen Ein-
druck. Ich hätte auf die Bäuerinnen mehr Acht geben
sollen. – Der Kondukteur fragt, übrigens sehr undeut-
lich, als hätte er es mit lauter Leuten zu tun, die diese
Strecke schon o gefahren sind, ob jemand für Pilsen
Kaffee bestellen wolle. Bestellt man, so klebt er einen
schmalen grünen Zettel für jede Portion ans Koupeefen-
ster, so wie in Misdroy ehemals, so lange es keine Lan-
dungsbrücke gab, der ferne Dampfer durch Wimpel die
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Zahl der Boote, die zum Ausbooten benötigt wurden,
anzeigte. Samuel kennt Misdroy gar nicht. Schade, daß
ich nicht mit ihm dort war. Es war damals sehr schön.
Diesmal wird es auch wunderbar schon werden. Die
Fahrt ist zu schnell, es vergeht zu rasch; die Begierde
nach weiten Reisen, die ich jetzt habe! – Welch ein alter-
tümlicher Vergleich ist der obige, da seit fünf Jahren der
Landungssteg in Misdroy steht. – Der Kaffee in Pilsen
auf dem Perron. Man muß ihn mit Zettel nicht nehmen
und bekommt ihn auch ohne.
Samuel: Vom Perron aus sehn wir ein fremdes Mäd-
chen aus unserem Koupee herausschauen, die spätere
Dora Lippen. Hübsch, dicknasig, kleiner Halsausschnitt
in weißer Spitzenbluse. Erste gemeinschaliche Tatsache
bei der Weiterfahrt: ihr großer Hut in seiner Papierhülle
schwebt aus dem Gepäcknetz leicht auf meinen Kopf
herab. – Wir erfahren, daß sie die Tochter eines nach
Innsbruck versetzten Offiziers ist und zu ihren Eltern
fährt, die sie
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