Drucke zu Lebzeiten
Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in
ein Automobil gedrängt und weggeführt wird. Samuel
dagegen ist guter Laune. Da der große Schirm des Autos
uns die Aussicht nimmt, sehn wir eigentlich von allen
Gebäuden nur den ersten Stock zur Not. Es ist Nacht.
Perspektiven einer Kellerwohnung. Samuel dagegen lei-
tet daraus phantastische Vorstellungen über die Höhe
der Schlösser und Kirchen ab. Da Dora in ihrem dunk-
len Rücksitz noch immer schweigt und ich schon fast
einen Ausbruch fürchte, wird er endlich doch stützig
und fragt sie, für mein Gefühl etwas zu konventionell:
„Nun, Sie sind doch nicht bös auf mich, Fräulein? Habe
ich Ihnen etwas getan u. s. f.?“ Sie erwiedert: „Da ich
[ ]
einmal hier bin, will ich Ihnen das Vergnügen nicht stö-
ren. Sie hätten mich aber nicht zwingen sollen. Wenn ich
,Nein‘ sage, so sage ich es nicht ohne Grund. Ich darf
eben nicht fahren.“ „Warum?“ fragt er. „Das kann ich
Ihnen nicht sagen. Sie müssen doch selbst einsehn, daß
es sich für ein Mädchen nicht schickt, Nachts mit Her-
ren herumzufahren. Außerdem ist noch etwas dabei.
Nehmen Sie nur an, ich wäre schon gebunden …“ Wir
erraten, jeder für uns, mit stillem Respekt, daß diese
Sache irgendwie mit dem Wagner-Herren zusammen-
hängt. Nun, ich habe mir keine Vorwürfe zu machen,
versuche sie aber trotzdem aufzuheitern. Auch Samuel,
der sie bisher ein wenig von oben herab behandelt hat,
scheint zu bereuen und will nur mehr von der Fahrt
sprechen. Der Chauffeur, von uns aufgefordert, ru die
Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus. Die
Pneumatics rauschen auf dem nassen Asphalt wie der
Apparat im Kinematographen. Wieder diese „weiße
Sklavin“. Diese leeren langen gewaschenen schwarzen
Gassen. Das Deutlichste sind die unverhängten großen
Fenster des Restaurants „Vier Jahreszeiten“, dessen
Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war.
Verbeugung eines livrierten Kellners vor einer Tischge-
sellscha. Bei einem Denkmal, das wir in einem glück-
lichen Einfall für das berühmte Wagnerdenkmal erklä-
ren, zeigt sie Teilnahme. Nur beim Freiheitsmonument
mit seinen im Regen klatschenden Fontänen ist längerer
[ ]
Aufenthalt gegönnt. Brücke über die nur geahnte Isar.
Schöne herrschaliche Villen längs des Englischen Gar-
tens. Ludwigsstraße, eatinerkirche, Feldherrnhalle,
Pschorrbräu. Ich weiß nicht, wieso das kommt: ich er-
kenne nichts wieder, obwohl ich doch schon mehrmals
in München war. Sendlinger Tor. Bahnhof, den rechtzei-
tig zu erreichen ich (besonders Doras wegen) Sorge hat-
te. So sind wir wie eine darauin ausgerechnete Feder in
genau zwanzig Minuten durch die Stadt geschnurrt,
nach dem Taxameter.
Wir bringen unsere Dora, als wären wir ihre Münch-
ner Verwandten, in einem direkten Koupee nach Inns-
bruck unter, wo eine schwarzgekleidete Dame, die mehr
zu fürchten ist als wir, ihr für die Nacht ihren Schutz
anbietet. Da sehe ich erst, daß man uns zweien mit Beru-
higung ein Mädchen anvertrauen kann.
Samuel: Die Sache mit Dora ist gründlich mißlun-
gen. Je weiter es gieng, desto schlimmer. Ich hatte die
Absicht, die Reise zu unterbrechen und in München zu
übernachten. Bis zum Nachtmahl, etwa Station Regens-
burg, war ich überzeugt, daß es gehn würde. Ich ver-
suchte mich mit Richard durch ein paar Worte auf einem
Zettel zu verständigen. Er scheint ihn gar nicht gelesen
zu haben, nur darauf bedacht, ihn zu verstecken.
Schließlich liegt ja nichts daran, ich hatte gar keine Lust
auf das fade Frauenzimmer. Nur Richard machte so ein
Wesen aus ihr, mit seinen umständlichen Ansprachen und
[ ]
Gefälligkeiten. Dadurch wurde sie auch in ihrer dummen
Ziererei bekräigt, die schließlich im Automobil ganz
unerträglich wurde. Beim Abschied wurde sie folgerecht
ein sentimentales deutsches Gretchen, Richard, der ihr
natürlich den Koffer trug, benahm sich, wie wenn sie ihn
unverdient beglückt hätte, ich hatte nur ein peinliches
Gefühl. Um es kurz zu formulieren: Frauen, die allein
reisen oder sonst irgendwie als selbständig betrachtet
sein wollen, dürfen dann nicht wieder in die übliche,
vielleicht heute schon veraltete Koketterie verfallen, in-
dem sie bald anziehn, bald abstoßen und in der dadurch
erzeugten Verwirrung ihren
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