Drucke zu Lebzeiten
schon so lange nicht gesehn hat. Sie arbeitet
in einem technischen Bureau in Pilsen, den ganzen Tag,
hat sehr viel zu tun, aber es macht ihr Freude, sie ist sehr
zufrieden mit ihrem Leben. Im Bureau heißt sie: unser
Nesthäkchen, unsere kleine Schwalbe. Sie ist dort unter
lauter Männern, die jüngste. O es ist lustig im Bureau!
Man verwechselt die Hüte in der Garderobe, nagelt die
Zehnuhrkipfel an oder klebt einem den Federstiel mit
Gummiarabicum an die Schreibmappe. Wir selbst haben
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Gelegenheit an einem solchen „tadellosen“ Witz mitzu-
wirken. Sie schreibt nämlich eine Karte an ihre Bureau-
kollegen, in der es heißt: „Das Vorausgesagte ist leider
eingetroffen. Ich bin in einen falschen Zug eingestiegen
und befinde mich jetzt in Zürich. Herzliche Grüße.“
Wir sollen diese Karte in Zürich aufgeben. Sie erwartet
aber von uns als „Ehrenmännern“, daß wir nichts dazu-
schreiben. Im Bureau wird man natürlich Sorge haben,
telegraphieren und Gott weiß, was noch. – Sie ist Wag-
nerianerin, fehlt bei keiner Wagnervorstellung, „diese
Kurz neulich als Isolde“, auch den Briefwechsel Wag-
ners mit der Wesendonck liest sie eben, sie nimmt ihn
sogar nach Innsbruck mit, ein Herr, natürlich jener, der
ihr die Klavierauszüge vorspielt, hat ihr das Buch ge-
borgt. Sie selbst hat leider wenig Talent zum Klavier-
spiel, wir wissen es aber schon, seitdem sie uns einige
Leitmotive vorgesummt hat. – Sie sammelt Chokoladen-
papier, aus dem sie eine große Staniolkugel macht, die
sie auch mit hat. Diese Kugel ist für eine Freundin be-
stimmt, weiterer Zweck unbekannt. Sie sammelt aber
auch Cigarrenbinden, diese ganz bestimmt für ein Ta-
blett. – Der erste bayerische Kondukteur bringt sie dar-
auf, ihre sehr widerspruchsvollen und dunklen Ansich-
ten einer Offizierstochter über das österreichische Mili-
tär und Militär überhaupt kurz und mit großer Entschie-
denheit zu äußern. Sie hält nämlich nicht nur das öster-
reichische Militär für schlapp, sondern auch das deut-
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sche und jedes Militär überhaupt. Aber läu sie nicht
im Bureau zum Fenster, wenn Militärmusik vorüber-
kommt? Eben nicht, denn das ist kein Militär. Ja, ihre
jüngere Schwester, die ist anders. Die tanzt fleißig im
Innsbrucker Offizierskasino. Also Uniformen imponie-
ren ihr gar nicht und Offiziere sind für sie Lu. Offen-
bar ist daran zum Teil jener Herr schuld, der ihr die
Klavierauszüge borgt, zum Teil aber unser Hin- und
Herspazieren auf dem Perron des Further Bahnhofs,
denn sie fühlt sich nach der Fahrt im Gehn so frisch und
streicht mit den Handflächen ihre Hüen. Richard ver-
teidigt das Militär, aber ganz im Ernst. – Ihre Lieblings-
ausdrücke: tadellos – mit Null Komma fünf Beschleuni-
gung – herausfeuern – prompt – schlapp.
Richard: Dora L. hat runde Wangen mit viel blon-
dem Flaum; sie sind aber so blutleer, daß man sehr lange
die Hände in sie drücken müßte, ehe sich eine Röthung
zeigte. Das Mieder ist schlecht, über seinem Rande auf
der Brust zerknittert sich die Bluse; davon muß man
absehn.
Froh bin ich, daß ich ihr gegenüber und nicht neben
ihr sitze, ich kann nämlich mit einem, der neben mir
sitzt, nicht reden. Samuel z. B. setzt sich wieder mit Vor-
liebe neben mich; er sitzt auch gern neben Dora. Ich
dagegen fühle mich ausgehorcht, wenn sich jemand ne-
ben mich setzt. Schließlich hat man ja wirklich gegen
einen solchen Menschen von vornherein kein Auge in
[ ]
Bereitscha, man muß sie erst zu ihm hinüberdrehen.
Allerdings bin ich infolge meines Gegenübersitzens von
der Unterhaltung Doras und Samuels, besonders wenn
der Zug fährt, zeitweilig ausgeschlossen; alle Vorteile
kann man nicht haben. Dafür sah ich sie aber schon,
wenn auch nur Augenblicke lang, stumm neben einan-
dersitzen; natürlich ohne meine Schuld.
Ich bewundere sie; sie ist so musikalisch. Samuel aller-
dings scheint ironisch zu lächeln, als sie ihm etwas leise
vorsingt. Vielleicht war es nicht ganz korrekt, aber im-
merhin, verdient es nicht Bewunderung, daß sich ein in
einer großen Stadt alleinstehendes Mädchen so herzlich
für Musik interessiert? Sie hat sogar in ihr Zimmer, das
doch nur gemietet ist, ein gemietetes Klavier schaffen
lassen. Man muß sich nur vorstellen: eine so umständli-
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