Drucke zu Lebzeiten
das Essen
machte ihm bald nicht mehr das geringste Vergnügen,
und so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an,
kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen.
Besonders oben auf der Decke hing er gern; es war ganz
anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete
freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper;
und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich
Gregor dort oben befand, konnte es geschehen, daß er
zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf den
Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen
Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beschä-
digte sich selbst bei einem so großen Falle nicht. Die
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Schwester nun bemerkte sofort die neue Unterhaltung,
die Gregor für sich gefunden hatte – er hinterließ ja auch
beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes –,
und da setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Krie-
chen in größtem Ausmaße zu ermöglichen und die Mö-
bel, die es verhinderten, also vor allem den Kasten und
den Schreibtisch, wegzuschaffen. Nun war sie aber nicht
imstande, dies allein zu tun; den Vater wagte sie nicht
um Hilfe zu bitten; das Dienstmädchen hätte ihr ganz
gewiß nicht geholfen, denn dieses etwa sechzehnjährige
Mädchen harrte zwar tapfer seit Entlassung der früheren
Köchin aus, hatte aber um die Vergünstigung gebeten,
die Küche unauörlich versperrt halten zu dürfen und
nur auf besonderen Anruf öffnen zu müssen; so blieb
der Schwester also nichts übrig, als einmal in Abwesen-
heit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erreg-
ter Freude kam die Mutter auch heran, verstummte aber
an der Tür vor Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die
Schwester nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war;
dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte in
größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten
gezogen, das Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig
über das Kanapee geworfenes Leintuch aus. Gregor un-
terließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu spionieren;
er verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen,
und war nur froh, daß sie nun doch gekommen war.
„Komm nur, man sieht ihn nicht“, sagte die Schwester,
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und offenbar führte sie die Mutter an der Hand. Gregor
hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den immer-
hin schweren alten Kasten von seinem Platze rückten,
und wie die Schwester immerfort den größten Teil der
Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen
der Mutter zu hören, welche fürchtete, daß sie sich über-
anstrengen werde. Es dauerte sehr lange. Wohl nach
schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man solle
den Kasten doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu
schwer, sie würden vor Ankun des Vaters nicht fertig
werden und mit dem Kasten in der Mitte des Zimmers
Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber sei es
doch gar nicht sicher, daß Gregor mit der Entfernung
der Möbel ein Gefallen geschehe. Ihr scheine das Gegen-
teil der Fall zu sein; ihr bedrücke der Anblick der leeren
Wand geradezu das Herz; und warum solle nicht auch
Gregor diese Empfindung haben, da er doch an die Zim-
mermöbel längst gewohnt sei und sich deshalb im leeren
Zimmer verlassen fühlen werde. „Und ist es dann nicht
so“, schloß die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt fast
flüsterte, als wolle sie vermeiden, daß Gregor, dessen
genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch nur den
Klang der Stimme höre, denn daß er die Worte nicht
verstand, davon war sie überzeugt, „und ist es nicht so,
als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten, daß
wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn
rücksichtslos sich selbst überlassen? Ich glaube, es wäre
[ ]
das beste, wir suchen das Zimmer genau in dem Zustand
zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor, wenn
er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet
und umso leichter die Zwischenzeit vergessen kann.“
Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gre-
gor, daß der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen
Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben in-
mitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate seinen
Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte er
es sich nicht erklären, daß er ernstha darnach hatte
verlangen können, daß sein Zimmer ausgeleert
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