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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Herkunft der Frauen (Anne ist siebenunddreißig und aus Köln, Bianka Ende vierzig und aus Hesslingen), von Alexander und Jürgen weiß sie hingegen so gut wie gar nichts.
    Schließlich gelangen wir zu der Gemeinschaftsküche, die zwar allen zur Verfügung steht, aber nie genutzt wird. Isabell bleibt vor der Küche stehen und erklärt in knappen Worten, dass dieser Raum meistens abgeschlossen sei, zeigt mir dann nacheinander die zwei Gruppenräume, den Essensraum und den » Pfleger-Stützpunkt«, der von allen nur » Glas-Stütze« genannt wird und den ich von meinem Gespräch mit Frau Gräfling bereits kenne. Die Therapeutenzimmer liegen jeweils nebeneinander und sich gegenüberliegend um den » Stützpunkt« verteilt.
    Am Ende unseres Rundgangs gehen wir in unser Zimmer zurück, setzen uns an den Tisch und schweigen eine Weile. Isabell unterbricht die Stille, indem sie sich räuspert und mich mit ernstem Blick fragt: » Ida, warum bist du eigentlich genau hier?«
    Ich habe diese Frage erwartet und seufze müde.
    » Keine Ahnung. Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Ich könnte jetzt Diagnosen aufzählen oder Probleme, die Art Probleme, die hier wohl jeder hat. Aber im Grunde habe ich keine Ahnung, warum ich hier bin und warum ich nicht einfach draußen sein kann und mit den anderen Kindern spielen darf.«
    » Ich hatte das etwas weniger metaphysisch gemeint«, sagt Isabell.
    » Das weiß ich, aber was willst du genau hören?«
    » Vielleicht Daten. Fakten. So etwas eben.« Sie hält einen Moment inne und fügt dann hinzu: » Vielleicht doch eine etwas detailliertere Diagnose. Ja, ich glaube, vielleicht fangen wir damit einfach einmal an.«
    Ich bin mir nicht sicher, wie weit die Antwort auf diese Frage gehen kann– wie wenig oder wie weit detailliert ich schon bereit bin, Auskunft zu geben. Ich überlege eine Weile, während ich mir nervös auf die Unterlippe beiße, auch wenn ich weiß, wie sehr dieses Innehalten einen Spannungsbogen erzeugt, der mir völlig verfehlt erscheint.
    Schließlich wiederhole ich: » Depressionen. Angstattacken. Ständig Panik. Vor beinahe allem. So sehr, dass ich Angst hatte, die Wohnung zu verlassen. So sehr, dass ich sogar beim Einkaufen geweint habe, wenn ich nicht sofort das Richtige fand, und dann den Laden fluchtartig verlassen habe.« Ich überlege einen Moment. » Es gab eigentlich nichts, das mir keine Angst gemacht hätte. Es war eigentlich eher so, dass es nur noch diese beiden Gefühle gab: Angst oder Panik. Und dazwischen lagen nur eine monströse Müdigkeit und das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können, wenn ich erst mal im Bett lag. Und das tat ich am Ende die meiste Zeit: im Bett liegen und Angst haben.«
    Sie lächelt zufrieden und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. » Dann scheinst du hier ja am richtigen Ort zu sein.«
    Sie reibt sich die Hände, als wäre meine Anwesenheit die endgültige Vollendung eines Plans– und wie um mir zu beweisen, dass auch sie Teil dieses Plans und seiner Durchführung war, beginnt sie, ihre Geschichte zu erzählen.
    Isabell ist ein Jahr jünger als ich und stammt aus einer durch und durch durchschnittlichen Mittelschichtsfamilie. Ihre Mutter, eine neurotische und zwanghafte Frau, die ihren Beruf der Kinder wegen aufgegeben hatte, traktierte Isabell entweder mit einer nervenaufreibenden Mischung aus übertriebener Besorgnis (und der daraus resultierenden Kontrollsucht) oder verfiel in das Gegenteil: einer kühlen Distanz, die sich hauptsächlich darin zeigte, dass sie keine Art von Verständnis oder Akzeptanz gegenüber Isabell aufbringen konnte, die über ihre eigenen Verhältnisse hinausging. Da sich die Tochter schon früh für Kunst und Malerei begeistert hatte, hörte das Verständnis der Mutter eben genauso früh auf, und sie versuchte mehrere Male vergeblich, ihre Tochter dazu zu bewegen, etwas » Bodenständigeres« zu lernen oder etwas » Kaufmännischeres«, schließlich hatte sie, die Mutter, auch einmal einen solchen Beruf erlernt (sie war Floristin in einem kleinen Blumenladen gewesen) und konnte deshalb aus eigener Erfahrung sagen, dass gerade diese Art von Beruf den meisten Erfolg sowohl auf persönlicher als auch auf finanzieller Ebene versprach.
    Dass sie den Beruf bei der ersten sich ihr bietenden Gelegenheit aufgegeben hatte (die Schwangerschaft mit Isabells älterem Bruder Niklas), erwähnte sie in diesen Gesprächen nie und auch nicht die Tatsache, dass sie sich selbst ein Leben lang mehr als gewünscht hatte, ihrer

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