Drüberleben
der Eindrücke in den Kliniken– im Grunde geschieht selten etwas von eklatanter Neuheit, wenn man, wie ich, zum wiederholten Mal versucht, sich in einer Einrichtung dieser Art zurechtzufinden. Die Grobheit der Wiederholung ist jedoch nur bei einer rudimentären Betrachtung der Umstände existent; im Detail unterscheiden sich die Gesichter natürlich, die Geschichten und die Räume. Und trotzdem kann ich das Gefühl der Wiederholung nicht abstreifen, und so wiederhole auch ich mich. Meine Antwort auf Ninas Frage bleibt die gleiche wie zuvor in Isabells Gegenwart. Und sie wird eine lange Zeit die gleiche bleiben.
Isabell erkundigt sich nach Iris, mit der Nina sich das Zimmer teilt.
» Die ist draußen und findet sich selbst«, antwortet sie.
» Jeden Abend atmet sie in ihr Chakra und macht diese komischen Verrenkungen und Übungen. Wenn die Gräfin ihr nicht die Räucherstäbchen verboten hätte, müsste ich auch noch die ganze Zeit den Gestank aushalten. Aber zum Glück lässt sie mich mittlerweile damit in Ruhe und fragt nicht mehr dauernd, ob ich nicht doch ganz eventuell mal Lust hätte, an einem ihrer Rituale teilzunehmen, oder ob sie mir mein aktuelles Horoskop erstellen könne oder was auch immer sie wieder versucht.«
Isabell scheint einen Moment zu überlegen und wendet dann ein: » So schlimm ist sie auch wieder nicht.«
» Du musst dir ja kein Zimmer mit ihr teilen.«
Isabell lächelt plötzlich, dreht sich zu mir und ergreift meine Hand, als hätte sie diese Geste schon viele Male zuvor ausprobiert. Ich erschrecke unmerklich, aber Isabells Griff verhindert, dass sich unsere Hände loslassen, und sie strahlt Nina an, als gelte es, etwas zu demonstrieren. Nina senkt den Blick, während ich verwirrt zu Isabell schaue, aber diese drückt nur noch fester meine Hand und sagt: » Wir werden uns bestimmt verstehen.« Ihr Blick in diesem Moment ist fest und auf eine Art herausfordernd, die nicht bedrohlich, aber bestimmend ist.
Nina lächelt fahl und bemerkt, dass sie noch etwas aufzuschreiben habe, und wir verlassen das Zimmer.
Isabell lässt meine Hand so abrupt los, wie sie sie genommen hat: » Weißt du, eigentlich ist das alles ein einziger Witz.« Sie schüttelt den Kopf.
Ich bin mir nicht sicher, was sie anspricht, und widerstehe dem Drang, eine Wahl zwischen den Antwortmöglichkeiten zu treffen, die möglicherweise mehr über mich als über sie verraten. Wieder sehe ich sie nur an, und sie fügt hinzu: » Das ist deshalb lächerlich, weil die beiden sich am Anfang gut verstanden haben, aber dann…«
Während wir sprechen, öffnet sich die Tür zum Nebenzimmer, und heraus tritt ein braunhaariger, gut aussehender Mann, der uns zuhört.
Als Isabell ihn bemerkt, unterbricht sie sich erschrocken: » Hast du etwa die ganze Zeit zugehört, Simon?«
Er grinst, tritt in den Flur und schleicht ein paar müde Schritte auf uns zu. » Ja«, entgegnet er knapp. Sein Blick wandert von ihr zu mir, und er lächelt beinahe, während er ein » Hallo« flüstert.
Ich grüße zurück, dann sehen wir uns einen Augenblick stumm an, und wieder fühle ich mich an etwas erinnert, das ich scheinbar längst vergessen habe. Um Simon ist es nebelig, ein Nebel, der sich über seine Augen und seine Gestik legt. Er ist in einem optischen Sinn unscharf, und bevor ich ihn genauer betrachten kann, ist er auch schon wieder verschwunden.
Nach und nach lerne ich durch Isabells Ausführungen alle Patienten der Station kennen. Wir klopfen an keine einzige Tür mehr, aber Isabell erzählt mir die (auf jeden Fall so und nicht anders passierten) Geschichten meiner Mitpatienten so präzise, wie sie es eben für nötig hält.
Ich erfahre, dass Simon allein in dem Zimmer schläft und niemand den Grund dafür kennt. Seine Geschichte scheint die einzige, über die nichts zu Isabell durchgedrungen ist, und der Nebel, der ihn umgibt, hat offenbar nicht nur meine Einschätzung seiner Person unmöglich gemacht.
Sie erzählt von Walter, einem zweiundfünfzigjährigen ehemaligen Postbeamten, der gewaltige Mengen Post hat verschwinden lassen, weil er es nicht geschafft hat, sie in der vorgegebenen Zeit auszutragen. Er war stets pünktlich zur Arbeit erschienen, schaffte es aber wegen seiner Depressionen immer seltener, bis zum Mittag im Dienst zu bleiben, bis er schließlich auf die Idee kam, die restlichen, nicht ausgetragenen Briefe einfach mit nach Hause zu nehmen. Als er immer häufiger schon ein paar Stunden nach Antritt seiner Schicht zu
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