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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Kreativität einen weitaus größeren Spielraum zuzugestehen, als bei dem Binden von Blumensträußen erforderlich gewesen war. Im Grunde, da war sich Isabell sehr sicher, hasste ihre Mutter den Gedanken zutiefst, dass die Tochter die Frechheit besaß, freie Malerei zu studieren, während sie, die Mutter, mindestens ihren Job, aber eigentlich ihre ganze » kreative Energie« geopfert hatte.
    Isabells Vater hingegen war vernarrt in seine Tochter und gestand ihr zu, sich frei zu entwickeln, ja, förderte sogar ihr Talent mit dem Bezahlen privater Unterrichtsstunden bei einem mit der Familie befreundeten Maler, den er sehr verehrte. Ihr Vater reiste beruflich viel und vermisste, so schien es, Isabell mehr als den Rest der Familie, was mitunter zu unschönen Eifersuchtsszenen zwischen den Eheleuten führte.
    Kurzum: Zwischen ihren Eltern und Isabell entspannte sich mit der Zeit eine krankhafte Dreiecksbeziehung, die sich darum drehte, wer wem etwas genommen oder gegeben oder zugemutet oder vorenthalten oder geraubt hatte. Ihr Bruder hielt sich aus diesen Revierkämpfen meistens geschickt heraus und betrachtete Isabell durch die Augen ihrer Mutter– und daher als potentiell eher verachtenswert.
    Isabell war in der Schule mittelmäßig beliebt gewesen, hatte ein mittelmäßiges Abitur abgelegt und war direkt im ersten Anlauf (und auch durch die guten Kontakte des Malers) an der Kunsthochschule angenommen worden. Dort hielt sie es zwei Semester aus, bis sie zum ersten Mal ein Urlaubssemester nahm, was, wie sie beteuerte, nur ihrer Selbstfindung dienen sollte, tatsächlich aber der Beginn von etwas war, das sie erst später begreifen würde: Es war das erste Mal, dass sie tagelang im Bett lag und sich krank und nutzlos fühlte und nicht imstande war, die düsteren Gedanken zum Erliegen zu bringen. Der zweite– jetzt nicht mehr als solcher zu leugnende– Zusammenbruch erfolgte vor ein paar Monaten und endete mit einem Einweisungsschein in die Klinik H.
    Beim Abendessen setzen wir uns nebeneinander wie zwei alte Freundinnen, denen die Selbstverständlichkeit der gegenseitigen Nähe in Gestik und Habitus übergegangen ist und bei denen jede ihrer Bewegungen wie eine Art Trockenübung zweier Synchronschwimmerinnen aussieht, die schon längst nicht mehr nachsehen müssen, was die andere tut.
    Das Essen verläuft ruhig und ohne große Vorkommnisse, und wir rauchen auf dem Balkon, der fast ausschließlich diesem Zweck dient, ein paar Zigaretten, um schließlich auf unser Zimmer zu gehen, uns bis spät in den Abend zu unterhalten und endlich einzuschlafen.

Neun
    I n der Dunkelheit wirkt sich Stille wie ein Verstärker aus. Anstelle der Synapsen zwischen die Nervenzellen angeschlossen, potenziert er alle Sinneseindrücke beinahe um ihr Quadrat. Ähnlich verhält es sich mit den Gedanken, die in der Dunkelheit von einem weißen Rauschen zu klaren Frequenzen aus Bildern und Tönen werden. Sich in die Dunkelheit zu flüchten ist nur eine Option des Äußeren, nur eine Versteckmöglichkeit des Körpers in seiner Umwelt. Alles Innere tritt erst in der Dunkelheit hervor, in der Stille, in der Einsamkeit einer Nacht, die wie diese ist.
    Ich sitze auf meinem Bett und betrachte Isabell, betrachte das Zimmer, das beinahe gänzlich in Dunkelheit und Nacht getaucht ist, und höre den Stimmen im Inneren zu, den Geräuschen meines Körpers, dem Schreien der Erinnerungen. Mein Schlaf wurde jäh durch eine Krankenwagensirene unterbrochen, die mich aufschrecken und meine Augen im Dunkeln verwirrt nach Orientierung suchen ließ– bis sie schließlich bei Isabells schlafendem Körper angelangten, und ich begriff: Ich bin nicht mehr allein, nicht mehr in meiner Wohnung, nicht mehr in meiner Illusion eines Zuhauses.
    Ich sitze eine lange Weile so da und weiß nicht, wohin mit mir und der Anstrengung des Versuchs, mich zu beruhigen.
    Schließlich streife ich mir eine Jacke über und schleiche aus dem Zimmer. Das Licht des immer erleuchteten Flurs blendet mich so sehr, dass ich für einen kurzen Moment taumle und nach Orientierung suche, bis ich schließlich die Augen zu kleinen Schlitzen zusammenkneife und einen Augenblick auf dem Gang vor unserer Tür stehenbleibe, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe.
    Es ist still auf dem Flur, und alle Türen sind geschlossen. Die Uhr am Ende des Ganges zeigt halb eins. Unsicher, wohin ich gehen soll, beschließe ich, dass die beste aller Optionen in diesem Moment ist, einfach loszulaufen, irgendwohin zu

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