Drüberleben
laufen, bis mich jemand aufhält. Dieses Prinzip hat sich noch nie als erfolgreich herausgestellt, noch nie den Wunsch nach Erfüllung, nach Aufgehaltenwerden, nach Gestopptwerden gestillt. Aber einer Motte gleich, die immer und immer wieder in die Lampe fliegt, gebe ich das Versuchen nicht auf.
Ich schleiche auf leisen Sohlen an den Zimmertüren entlang, hinter denen all diese Menschen schlafen, die Fremde sind und Fremde bleiben, in jedem Fall noch so fremd sind, dass ich mich kaum an ihre Gesichter oder Namen erinnere.
Beim Abendessen stellten sie sich vor, sahen verstohlen herüber oder sprachen mich direkt an, lachten manchmal und erzählten dies und das, aber eigentlich, so empfand ich es in diesem Augenblick, hatte ich mir kaum eine Geschichte, einen Satz, auch nur ein Wort richtig merken können, und noch empfand ich mein Dasein hier als eine Art Provisorium, als einen Zustand, der eben genau das war: ein Moment, der vorübergehen würde, ein bloßer Zustand, kein Verweilen.
Nach wenigen Schritten stehe ich vor dem Pflegerraum, und eine ältere Dame, die anscheinend meine Schritte vernommen hat, tritt aus der Tür. » Guten Morgen Frau Schaumann. Ich vermute, Sie sind schlaflos?«
» Ganz offensichtlich, ja.«
Sie bittet mich einzutreten und schließt hinter uns die Glastür. » Frau Schaumann, mein Name ist Schwester Blohm. Ich mache hier die Nachtschicht. Liegt Ihnen etwas auf der Seele, mein Kind?«
Achttausend Kilo Schwermut. Vierundzwanzig Jahre Risse und Flecken und das Gefühl, dass der Geist nur ein monumentales Denkmal ist in einem Körper, der nie älter geworden ist als achtzehn.
» Nein, ich kann nur nicht schlafen, das ist alles.«
» In den ersten Nächten ist es für einige Patienten ungewohnt, hier zu sein. Ich kann Ihnen anbieten, mit mir zu sprechen.«
» Können Sie auch singen? Sie könnten mir ja Schlaflieder vorsingen.«
Sie schaut mich irritiert an. » Gut, ich verstehe das als Nein. Es ist üblich, dass Sie von mir eine leichte Schlafmedikation bekommen können. Möchten Sie etwas zum Schlafen?«
» Ich glaube, ein Kamillentee wäre ausreichend. Kann ich jetzt gehen?«
Einen Augenblick zögert Frau Blohm, dann nickt sie und lässt sich wieder auf ihren Stuhl fallen.
Ein paar Minuten später sitze ich allein im Essensraum, in eine Tasse Kamillentee starrend. Den Tee hatte ich dankend entgegengenommen, die dazu angebotene Gesellschaft erschien mir etwas übertrieben, und so überließ mich die Schwester meinem Getränk und meinen Gedanken, und ich sehe meinem Spiegelbild in den dunklen Fenstern zu, wie es trinkt, pustet und trinkt.
Die Minuten vergehen und werden zu einer halben Stunde, werden schließlich zu einer Dreiviertelstunde, und ich sitze noch immer allein in dem Raum mit einem mittlerweile kalt gewordenen Rest Tee.
Gerade, als ich beschließe, endlich in mein Zimmer zurückzukehren, öffnet sich die Tür. Ich drehe mich erschrocken um und sehe in das Gesicht von Simon, der in einer grauen Trainingshose und einem verwaschenen weißen T-Shirt in der Tür steht und mich überrascht ansieht.
» Auch hier«, stellt er fest und stößt sich vom Rahmen der Tür ab, geht ein paar Schritte auf mich zu und setzt sich schließlich auf den gegenüberstehenden Stuhl.
Ich nicke und betrachte angestrengt meine Fingernägel.
Wir schweigen beide. Wir schweigen eine lange Zeit, so lange, dass die Stille beinahe unangenehm wird und ich sie schließlich durchbreche.
» Warum kannst du nicht schlafen?«, frage ich.
» Ich kann meistens nicht schlafen.«
» Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
» Weil ich es eben nicht kann«, antwortet er und greift nach meiner Tasse, die er zwischen seinen Fingern hin und her bewegt.
» Manche Dinge sind halt einfach so.«
» Ich wollte bloß höflich sein«, entgegne ich, mittlerweile ein wenig gereizt von seinem offenkundigen Missmut.
» Höflichkeit also. Ida Schaumann ist also ein höflicher Mensch.«
» Woher kennst du meinen Namen?«
» Dein Name stand bei den Teilnehmerlisten der Gruppen.«
» Aha.«
» Und, wie gefällt es dir in unserer kleinen WG ?«
Jede seiner Fragen wirkt wie eine Aussage, deren tieferem Sinn er unterstellt, dass nur er ihn entdeckt und verstanden hat, dass kein anderer Mensch in der Lage ist zu verstehen, was hinter den Dingen, hinter den Worten verborgen bleibt– weil alle anderen zu dumm, zu wenig tief, zu sehr unvorsichtig mit den Worten umgehen. Dieses tiefe Misstrauen gegenüber den Menschen
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