Drüberleben
verleiht ihm einen feindseligen, einen trotzigen und beinahe bösartigen Ausdruck, der im Grunde gelangweilt und kalkuliert wirkt.
» Gut«, antworte ich.
» Ich werde dich nicht fragen, warum du hier bist. Vermutlich hast du Depressionen, weil Mama und Papa nicht nett zu dir waren, oder du hast irgendeine schicke Phobie, das ist doch gerade so in– eine kleine, gepflegte Phobie, nicht wahr?«
Er blickt gelangweilt im Raum herum und vermeidet es, mich anzusehen.
» Ist das deine verdrehte Art von Humor, Simon? Ist das deine Art, ein Gespräch anzufangen?«
» Oha, sie hat sich also auch meinen Namen gemerkt. Na, das ist doch was. Da haben wir doch eine Grundlage für eine Unterhaltung. Ich bin im Übrigen recht humorlos, musst du wissen. Wenn du ein paar Witze benötigst, solltest du dich eher an Isabell oder an die anderen Pappnasen halten.«
Wir starren uns feindselig an, und ich bemerke ein leichtes Zittern meiner Hände, die ich schnell zurückziehe und unter dem Tisch verkrampft aneinanderreibe.
Ich sollte aufstehen. Ich sollte aufstehen und gehen. Ich sollte diesen Ort verlassen, diesen Raum. Ich sollte meine Tasse nehmen und sie ihm ins Gesicht werfen, sollte etwas Impulsives tun oder das Gegenteil davon, sollte in jedem Fall aber schleunigst diesen Moment beenden und in jedem Fall gehen, aufstehen und gehen.
» Danke für dieses erbauliche Gespräch«, sage ich, während ich schon aufstehe, » es war mir eine Freude.«
» Ist das kleine Mädchen jetzt eingeschnappt?«, Simon lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.
» Ja, was auch immer.« Ich gehe zur Tür.
» Gute Nacht, kleine Ida, träum süß«, ruft Simon mir von seinem Platz hinterher, während ich schon die Tür von außen schließe.
Auf dem Gang hole ich ein paar Mal tief Luft und zähle sehr häufig von zehn bis eins.
Plötzlich öffnet sich die Tür hinter mir, Simon drückt sich an mir vorbei und baut sich vor mir auf.
» Du hast etwas vergessen«, grinst er und drückt mir die Tasse in die Hand. Dann dreht er sich um und geht leise pfeifend den Flur entlang zurück zu seinem Zimmer. Und während er die Tür schließt, bewegt sich der Zeiger der Uhr mit einem » Klack« auf halb zwei.
Zehn
D ie Tür öffnet sich mit einem Schwung und knallt gegen die Wand, um dann zurückzufedern und beinahe den Kopf der Gräfin zu treffen, der durch den Türrahmen lugt und schreit: » Frau Schaumann, Frau Schaumann, sind Sie hier?«
Ich stehe vor dem Schrank in der Ecke, erschrocken und ein wenig erstarrt ob ihres beeindruckenden Auftritts, und zucke zusammen, als sie sich vor mir aufbaut und fragt, ob ich ihr Klopfen nicht gehört habe. Ich verneine, ich hätte unter der Dusche gestanden.
» Gut, gut«, sagt sie, » ich möchte Sie gerne mitnehmen zur Visite.«
Die Chefarzt- oder auch Oberarztvisite ist ein meistens wöchentlich stattfindendes Ritual: Der Patient wird in einen Raum gebracht, in dem der Chef- oder Oberarzt sitzt sowie die behandelnden Therapeuten und das Pflegepersonal. Der Patient setzt sich auf einen Stuhl und wird ein paar Minuten lang nach Fortschritten, Rückschritten und möglichen Zielsetzungen befragt.
Läge man mit einem gebrochenen Bein in einem Krankenhausbett, so käme die Gruppe in das eigene Zimmer, stünde am Bett und würde sich kurz darüber beraten, wie die Wunde, der Knochen, der ganze Mensch verheile.
Und weil die meisten Psychiatrien zu Krankenhäusern gehören, finden auch hier Visiten statt. Der Patient kann aber meistens laufen und läuft deshalb zur Visite und nicht umgekehrt. Über Wunden wird trotzdem gesprochen. Über Heilung und Wundheilung, über Verbände und Fortschritte, über das Desinfizieren der Wunde, wie sehr die Nähte schmerzen und ob sie reißen, wenn der eigene Kopf sich wieder zu sehr bewegt, so sehr bewegt, dass die Wunde aufreißt und eitert– ein Eiter aus Gedankenabfall und Angst, eine Flüssigkeit aus Gift und stetigem Widerwillen.
Frau Gräfling führt mich den Gang entlang und durch die Haupttür der Station. Mit dem Fahrstuhl fahren wir zwei Stockwerke hinauf, bis wir zu Station 3 kommen– die Privatstation. Hier stehen mehr Stühle auf dem Gang, und es hängen mehr Bilder an den gelben Wänden, hier stehen ein Wasserspender und frische Blumen. Der Wahnsinn trägt hier hübsche Kleider und riecht gut.
Wir betreten ein Zimmer, das ganz am Anfang der Station liegt, Frau Gräfling öffnet die Tür und lässt mich als Erste eintreten. An einem runden Tisch sitzen Kropka und
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