Drüberleben
Wängler, und Frau Gräfling setzt sich umständlich und ächzend dazu, so als bereite ihr der Aufenthalt in diesem Raum große Schmerzen. Kropka deutet mit der Hand auf den einzigen freien Platz, der ihm gegenüberliegt, und ich setze mich vorsichtig, langsam, wie jemand, der eine Sitzhaltung eigentlich nur andeuten möchte, um schnell aufzustehen und herauslaufen zu können, sobald sich die Gelegenheit bietet.
» Wie war Ihre erste Nacht, Frau Schaumann?«, beginnt Kropka das Gespräch.
» Ungewohnt«, antworte ich, was seltsam klingt, denn: Nur das Gefühl kann ungewohnt sein, die Nacht selbst bleibt und ist nicht mehr als die Abwesenheit von Licht und die Anwesenheit von sehr viel Schatten.
» Konnten Sie schlafen?«, fragt Kropka.
» Ja, ein wenig. Genug.«
» Ich nehme an, dass Sie wissen, was bei einer Visite passiert, nicht?«, fragt er und wirft einen schnellen Blick zu Frau Wängler, die sich eifrig Notizen auf einem Block macht, während sie ab und zu den Kopf hebt und mich mit einem Lächeln betrachtet.
» Ja, ich habe genug Erfahrung in solchen Visiten sammeln können, um ungefähr zu wissen, was mich hier erwartet: Sie stellen die Fragen, und ich antworte so, als wüsste ich, was Sie von mir erwarten, damit wir nach ein paar Minuten alle glücklich und zufrieden auseinandergehen können.«
Er kneift die Lippen zusammen, und Frau Wängler hebt erneut den Kopf und sieht abwechselnd die Gräfin, Kropka und mich an, ein mittlerweile verzerrtes Lächeln im Gesicht. Die Metamorphose ihres Lächelns führt bisweilen zu einer Art umgekehrter Mimikry: Je feindlicher der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers, desto freundlicher der ihrige.
» Nun gut, Frau Schaumann, ich sehe, Sie haben Ihren Sinn für Humor nicht gänzlich eingebüßt.«
Die Gräfin beißt ihre Zähne aufeinander, die Muskulatur ihres Kiefers ist dermaßen gespannt, dass sie selbst bedrohlich wirkt, wenn sie schweigt. Frau Wängler atmet geräuschvoll aus, scheinbar erleichtert ob der Deeskalation des Oberarztes. Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme.
» Gleichwie, wir würden heute gerne kurz mit Ihnen besprechen, was Sie zu Ihrem Aufenthalt hier bewogen hat.«
» Haben wir das nicht schon besprochen, Herr Kropka?«
» Der Zweck dieser Angelegenheit hier ist, dass Sie noch einmal in wenigen Worten Ihre Problematik zusammenfassen, damit wir in Zukunft bei unseren wöchentlichen Zusammenkünften gemeinsam feststellen können, inwieweit Sie Fortschritte machen und ob wir gemeinsam auf dem richtigen Weg sind.«
» Ich bin seit ungefähr sechs Jahren depressiv. Ich glaube manchmal, dass ich schon so zur Welt gekommen bin. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, jemals das Gefühl gehabt zu haben, einen wertvollen Beitrag zum Weltgeschehen durch meine Frohnatur beigetragen zu haben. Viel mehr hatte ich den Eindruck, eine große Störung, ein unvorhergesehener Zwischenfall zu sein. Eine Störung im System, irgendwie falsch programmiert, irgendwie so aussehend wie die anderen, aber in der Software total beschädigt.«
» Haben Sie jemals versucht, sich absichtlich zu verletzen? Oder sich das Leben zu nehmen?«
» Ja, immerzu. Immerzu denke ich darüber nach. Ich würde wirklich sehr, sehr gerne mein Leben nehmen und es irgendwo hinschmeißen. Vielleicht kann man es noch weiterverwerten. Vielleicht braucht ja gerade jemand zufällig so eine Katastrophe von Leben. Und kann mir dann seines geben. Das wäre doch was, oder?«
» Die Frage war: Haben Sie jemals versucht, sich umzubringen?«
» Nein. Erstaunlicherweise habe ich das nie ernsthaft versucht.«
» Gibt es etwas, das Sie davon abgehalten hat? Oder jemand? Der Ihnen viel bedeutet?«
» Nein. Im Gegenteil. Mich hat sogar die Abwesenheit von etwas davon abgehalten. Die Abwesenheit einer echten Alternative. Ich wollte nicht auf diese Art sterben. Nicht sterben, ohne wenigstens eine Phase der Zufriedenheit erlebt zu haben. Und der Tod war mir eine zu unsichere Sache, was die Zufriedenheit angeht. Vielleicht kommt danach ja gar nichts, und dann liege ich da, tot und nie zufrieden gewesen, und habe sogar da versagt. Also dachte ich: Hey Ida, versuche lieber im Leben noch irgendwie zufrieden zu werden, das hat vermutlich die größeren Chancen auf Erfolg. Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, lag ich falsch, aber wenigstens habe ich es versucht.«
» Wäre Zufriedenheit eine mögliche Zielsetzung für Ihren Aufenthalt hier?«, mischt sich Frau Wängler in das
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