Drüberleben
Er schaut Tanja an, die nur stumm und in sich versunken auf ihrem Stuhl saß. » Hallo? Ist jemand zu Hause?«, fragt Weimers nach.
Tanja hebt langsam ihren Blick und sagt tonlos: » Wofür sollen wir diesen ganzen Scheiß denn machen, Herr Weimers? Kommen Sie vorbei und lesen mir die Liste vor, wenn ich seit drei Tagen im Bett liege und heule? Oder wenn der Typ vom Arbeitsamt mir sagt, dass es leider keine Jobs für Erzieherinnen mit Angst vor Kindern gibt? Oder füttern Sie die Kleine, wenn sie schreit und ich mir nur die Ohren zuhalte, weil ich’s nicht mehr ertrage? Lesen Sie mir dann meine kleine Liste vor?«
Weimers öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Er ringt um Fassung. Gerade, als er ansetzt etwas zu erwidern, erhebt sich Simon und geht zur Tür.
» Was machen Sie da?«, fragt Weimers in einem Ton, der verrät, dass ihm etwas endgültig aus den Händen zu gleiten droht, das vielleicht noch nie darin gelegen hat.
» Gehen«, antwortet Simon ruhig. » Die Stunde ist doch vorbei.«
» Ach Leute, muss das jedes Mal wieder sein? Muss der Weimers jetzt wieder erklären, dass die Stunde erst vorbei ist, wenn ich das gesagt habe?«
Simon lächelt. » Warum denn? Tanja hat doch Recht. Das alles hier ist doch total sinnlos. Listen? Im Ernst?« Er beginnt zu lachen und lässt die Tür hinter sich zufallen.
Walter und Florian schütteln den Kopf, während man das tiefe Einatmen von Herrn Weimers hört, der mit den Worten » Sie können jetzt auch gehen, bis nächste Woche, Freunde« das Spektakel beendet.
Fünfzehn
U nd, wie war’s?«, fragt mich Isabell, als ich am Abend unser Zimmer betrete, in dem es nach kaltem Rauch und Parfum riecht. Die Vorhänge sind zugezogen, und Isabell hat anscheinend etwas gelesen, bevor ich hereinkam, es dann jedoch hektisch unter ihrem Kopfkissen verschwinden lassen.
» Wie war was?«, frage ich müde und lasse mich auf die dünne Latexmatratze fallen, die jedes Mal quietschend nachgibt.
» Deine Gruppe, die Depressionsgruppe, wie war die?«, fragt Isabell, und ich stöhne und richte mich wieder im Bett auf.
» Man könnte ein Buch darüber schreiben. Man müsste einfach nur die Dialoge aufschreiben, und schon hätte man nicht bloß ein Unterhaltungsbuch, sondern auch noch eine soziologische Betrachtung der psychisch gestörten Menschheit im 21. Jahrhundert im Kontext der postmodernen Unterhaltungsindustrie.«
» Was redest du da?«, fragt Isabell und gähnt.
» Nichts.«
Sie nickt gleichgültig und zieht ein Buch aus dem Stapel auf ihrem Nachttisch.
Nach einer Weile blickt Isabell auf und sagt: » Sag mal, Ida, hast du eigentlich das Gefühl, hier richtig zu sein?«
Ich frage sie, was sie damit meint, und sie antwortet:
» Ich meine, hast du nicht manchmal das Gefühl, dass du eigentlich zu Unrecht hier bist, dass du genaugenommen einfach bloß ein sehr besonderer Mensch bist, der ein bisschen mehr sieht und empfindet und spürt als andere und deshalb ein bisschen mehr denkt und verzweifelt?«
» Ja, immerzu. Aber dann sehe ich mich im Spiegel an und weiß, dass das nur ein schöner Gedanke ist«, antworte ich.
» Vielleicht ist das alles aber auch nur eine andere Art Spiegel. Ein Spiegel für das Gegenteil. Ein Negativspiegelbild. Schau deine Therapeutin an, und du weißt, wer du bist. Oder sag ihr, dass sie es dir sagen soll. Ist das vage? Ist das unschön? Ist das das Gegenteil von dem, was du gerne wärst? Dann hat sie vermutlich Recht. Sagt sie dir, dass du eigentlich ja ganz viel aus dir machen könntest und dass du ja einfach gehindert bist, dass du einfach bloß gehindert wurdest, du armer Mensch, dann hat sie vielleicht auch Recht. Und wenn sie schweigt, auch. Und wenn sie die Augen niederschlägt, auch. Sie hat vielleicht immer Recht. Aber sie sieht in dir den pathologischen Fall auf Seite irgendwas ihres Lehrbuches. Sie sitzt nicht mit dir in einem Café. Sie sieht nicht deinen Milchkaffee und dass du dir so verdammt viel Mühe gibst, gut auszusehen, während du dich so schlecht fühlst, dass deine Haut eigentlich abfallen und schimmeln und verrotten müsste und dein Kopf gleich mit dazu. Sie sieht nur eine Stunde in der Woche dein Gesicht, sie sieht nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was du als Ganzes bist, nur die Essenz deiner selbst, nur eine Stunde die Woche, nur ein Augenblick, Ida. Du glaubst, dass das echt ist, dass das real ist, dass du deine Diagnosen bist und deine Ekelhaftigkeiten. Aber das ist nur ein Teil. Du bist nicht deine
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