Drüberleben
Anzeige und Polizei und Schlimmheit der Menschheit und Unfähigkeit der Eltern und Mein-Gott-was-soll-man-da-bloß-sagen. Aber das kommt mir in diesem Moment alles so sehr unpassend vor. Was möchtest du also? Soll ich dich alleine lassen? Schweigen? Schweigen und gehen oder schweigen und einfach bei dir bleiben? Sollen wir uns davonschleichen und eine Zigarette rauchen? Was möchtest du?«
» Nicht alleine sein. Das wäre ein ziemlich guter Anfang«, sagt der Schatten, der jetzt Isabell ist, » nicht alleine sein und dass du es niemandem erzählst.«
Ich nicke, auch wenn sie mein Nicken nicht sehen kann, und atme tief ein und noch viel tiefer aus.
Sie wendet sich vom Fenster ab und lächelt bitter. Ich greife nach ihrer Hand, und einen Moment verweilen wir so, bis sie dieses Mal als Erste loslässt und wortlos im Bad verschwindet, aus dem sie nach ein paar Minuten wiederkommt, mit neuem Make-up und rosigen Wangen. » Komm«, sagt sie, » Zeit für die Drogen«, und öffnet die Tür.
Als ich an ihr vorübergehe, greift sie plötzlich nach meinem Arm, hält mich fest und legt ihren Kopf auf meine Schulter. » Ich denke, jetzt sind wir Freundinnen, so oder so«, flüstert sie in mein Ohr und lässt mich los.
Sechzehn
W ie schläfst du, wenn du etwas erfahren hast, das dich sprachlos macht? Wie fühlt sich Sprachlosigkeit an? Wohin gehen die Worte, wenn du sie zwar denkst, aber nicht aussprechen kannst? Wohin gehen die Gedanken, wenn sie zwar gedacht, aber nie ausgesprochen werden? Wie viel behältst du für dich? Und gibt es dafür eine Ablage in deinem Kopf? Was träumst du, wenn dir jemand einen Albtraum erzählt hat, von dem er sich wünscht, jener sei nur geträumt worden? Und sich wünscht, er sei nicht von ihm geträumt worden? Und sich wünscht, er hätte noch nicht einmal von diesem Traum gehört? Und sich wünscht, die Hand, die ihm den Mund zugehalten hat, hätte ihn auch erstickt? Was sagst du dieser Person? Sprichst du, oder schweigst du für immer? Brennen die Worte unter deiner Kopfhaut oder erst auf den Lippen?
Um halb eins nachts sitze ich wie üblich im Essensraum der Station 1. Und wie so oft habe ich keine Schlaftablette, sondern Schlaf gewollt, habe die Augen offen gehalten, bis sie anfingen zu brennen, bin aus dem Zimmer geschlichen, völlig erschlagen, aber noch immer nicht müde genug, um endlich schlafen zu können, um endlich schlafen zu dürfen.
Es ist still auf der Station, auf der alle Türen geschlossen sind und die Nachtschwester Blohm gelangweilt auf den Fernseher im Stationszimmer sieht.
Die Tür öffnet sich leise, und ohne mich umzudrehen weiß ich, wer hinter mir steht und wer nicht überrascht, sondern einfach nur stehengeblieben ist, auf der Suche nach einer Kampferöffnung.
» Hallo«, sagt die Stimme hinter mir bloß und setzt sich an das andere Ende des Tisches.
» Hallo«, antworte ich leise und sehe ihn nicht an.
» Und, wie geht’s?«, fragt er, und ich schüttle den Kopf.
» Was denn? Redet sie nicht mehr mit mir, oder was?«, sagt die Stimme und klingt belustigt.
» Sie redet generell nicht mit jemandem, der in der dritten Person über und mit ihr spricht«, entgegne ich und sehe ihn jetzt doch an. Er sieht müde aus, müde und bitter, und seine strähnigen Haare hängen ihm in die Stirn. Seine Augen, die selbst im Dunkeln und hinter dem Schleier, der immer über ihnen liegt, (oder genau deshalb) leuchten, sind geschwollen, und er reibt sie sich, als würde das helfen.
» Gut, dass sie es trotzdem gerade gemacht hat«, antwortet er und » dann könnten wir ja jetzt zum Beispiel anfangen, uns ein bisschen besser kennenzulernen, in dieser Notgemeinschaft der Nicht-Anonymen-Schlaflosen.«
» Ich glaube, ich habe für heute genug von Menschen, die mich besser kennenlernen möchten, und lehne dein Angebot daher dankend ab. Vielleicht könnten wir uns zur Abwechslung ja einmal über nette und nicht für Bissigkeiten geeignete Belanglosigkeiten austauschen. Wie war dein Abendessen?«
Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben, und er grinst unwillkürlich. » Fantastisch, Ida, fantastisch war es. Es gab trockenes Graubrot, garniert mit einem Stück altem Käse und undefinierbarem Gemüse, das glaube ich Salat sein sollte. Dazu reichte man mir einen Joghurt, der der Geschmacksrichtung Erdbeere zwar recht ähnlich war, jedoch vermutlich keine einzige solche enthielt. Fürderhin trank ich lauwarmen Tee aus Früchtestaub und genoss die Gesellschaft der anderen Idioten,
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