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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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weil er eigentlich aus dem Mund eines verschreckten Liebhabers kommen sollte, aber: Das geht mir zu schnell, und es fühlt sich äußerst merkwürdig an.«
    Ihr Blick wird hart, sie steht auf und baut sich vor mir auf. » Was soll das heißen? Wir reden doch viel, und wir verstehen uns blind, und du erzählst mir alles– was bleibt da an Fremdheit noch übrig, Ida?«
    » Du weißt nicht alles, und ich erzähle dir auch nicht alles, tut mir leid, dir das sagen zu müssen«, erwidere ich.
    » Was weiß ich denn zum Beispiel nicht?«, fragt sie, und beinahe klingt es wie ein Hinterhalt.
    » Einiges.«
    » Zum Beispiel?«
    » Du weißt manche Dinge deshalb nicht, weil ich sie nicht erzählen will. Das ist der Grund, warum Menschen Geheimnisse haben: Sie wollen nicht darüber sprechen.«
    » Aber könntest du nicht ein Beispiel nennen? Dann würden wir uns ja auch näher kennenlernen. Das wäre doch schön!«, wiederholt sie sich.
    Ich schlage vor, sie solle doch einfach zunächst einmal mehr von sich erzählen, so herum ginge es doch auch. Sie überlegt einen Moment, setzt sich dann aber wieder zu mir und lässt ihren Kopf in die Hände fallen– eine Aufforderung zur Nachfrage, eine äußerst lästige Geste von Menschen, die nicht selbst beginnen zu erzählen, sondern sich bitten, sich auffordern lassen wollen. Ich schweige und warte ab.
    » Na ja, das meiste kennst du ja«, sagt sie schließlich und lässt den Worten einen Nachhall, der bezeugen soll, dass ihnen noch Erklärungen folgen könnten– jedoch erst nach einer erneuten Nachfrage.
    » Gut«, sage ich, » was weiß ich nicht?«
    » Zum Beispiel, dass ich vergewaltigt worden bin.«
    Die Erstarrung, in die sich mein Körper begibt, tritt plötzlich ein und braucht nur einen Bruchteil einer Sekunde, um auch meinen Mund zu erreichen. Ich verharre mit geöffneten Lippen, und die Worte, die schon bereitlagen, die ich nur noch formen und sprechen musste, bleiben an Ort und Stelle, in Gehirn und Gedanken, und erreichen Isabells Ohren nicht im Geringsten. Ich bin unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben. Isabell dagegen beginnt jetzt zu sprechen, spricht von dem Maler, der immer schon zudringlich gewesen sei, jedoch nie so sehr, wie er es in dieser einen Nacht mit einem Male wurde, als es darum ging, sie bei der Kunsthochschule zu empfehlen und seine Beziehungen spielen, sein Wort geltend zu machen. Sie spricht von seinem schlechten Atem und einer Drohung, die ihr den Mund verbot. Und sie habe ja gewusst, dass ihr ohnehin niemand geglaubt hätte. Er sei beliebt, bekannt, bewundert gewesen. Man hätte seinen Namen andauernd in den Zeitungen gelesen. Und ihr Name, der sei doch bloß der eines Mädchens gewesen, das niemand gekannt, geschweige denn sonderlich gemocht hätte, was hätte da schon eine Anklage gegolten. Und da wäre ja noch der Vater gewesen, der seinen Freund, den Maler, so sehr geschätzt habe und, glücklich über dessen Engagement und Versprechungen, die Zukunft der Tochter in guten, farbverschmierten Händen gesehen habe.
    Sie spricht und spricht und weint jetzt auch.
    Nun wäre ich an der Reihe zu entscheiden, zu sprechen oder zu schweigen, Worte zu finden, die nicht bloße Imitationen von Verständnis sind und Vertrauen versprechen, oder in einem Schweigen Fassungslosigkeit und Respekt auszudrücken, Respekt vor der fraglichen Tatsache, dass jedes Wort und jeder Satz jetzt zu viel wären, dass sie eben doch nur leere Hülsen bleiben, die niemals ausdrücken können, was eine Umarmung, ein Blick, eine kleine Berührung besser könnten.
    Ich setze an und verstumme sofort wieder. Die Vorhänge wehen im Abendwind, und das Scheppern und Klirren von Geschirr ist auf dem Gang zu hören, ein paar Stimmen, es ist Zeit für die Medikamentenausgabe. Regungslos sitzen wir zusammen und wagen es nicht, uns anzusehen. Schließlich entscheide ich mich, etwas zu sagen, etwas zu tun, hebe hilflos die Hände und sage » Mein Gott« oder ähnlich Belangloses, weil meinem müden Gehirn nichts Besseres einfallen will.
    Isabell steht endlich auf, zieht die Vorhänge beiseite und schaut sich den Sonnenuntergang vor dem Fenster an, einer Medea gleich, die auf den Feuerwagen Helios’ wartet.
    » Hast du das jemandem außer mir erzählt?«, frage ich, und sie schüttelt den Kopf. » Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich könnte jetzt vermutlich ganz viel von dem Zeug wiederholen, das man immer so hört. Worte über Mitleid und Empörung und

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