Drüberleben
rausgehen, will etwas kaufen, etwas unternehmen, aber ich bin wie gelähmt, als hätte man mir die Arme und die Beine und den Verstand amputiert. Selbst das Essen, das mir sonst so leichtfällt, das ich in solchen Übermaßen konsumiert habe, fällt mir schwer– ich kann kaum einen Bissen hinunterwürgen, sofort beginnt der Brechreiz, weil mein Magen schon voll ist mit Gedanken und Stacheldraht.
Ich versuche zu lesen, aber jedes Wort verschwimmt zu einer Masse aus Unverständlichkeiten, ich kann mir nichts merken, ich kann nichts begreifen, ich kann nur das Buch weglegen und darauf starren und mich fragen, ob es gerade irgendwo auf der Welt auch jemanden gibt, der versucht, dieses Buch zu lesen, und ebenso daran scheitert.
Ich trinke lauwarmen Kaffee, den ich gerade so bei mir behalten kann, und überprüfe minütlich meinen Verstand, der sich nur noch wie ein Phantomschmerz anfühlt. Ich versuche ihn zu bewegen, versuche, seine Gedanken zum Laufen zu bringen, aber immer wieder muss ich feststellen, dass da nichts mehr ist.
In den Gesprächen werde ich stiller, unkonzentrierter und abwesender, denn eigentlich bin ich ja gar nicht da, ich bin nicht da, hallo, sieht mich jemand? Ich erzähle schöne Lügen und auch die hässlichen, ich erzähle ein bisschen von mir, und jetzt bist du dran, und da hätten wir ja schon ein Gespräch, na also. Doch all diese Gespräche bleiben immer nur Hologramme in meinem Kopf, die ich auf dem Holodeck meiner Vorstellungen so konzipiert habe. Der eine sagt: Wie geht’s dir? Und das Holodeck programmiert: Lächeln und antworten: Muss ja.
Und so wenig, wie ich in die Köpfe der anderen sehen kann, so wenig weiß jemand, dass Ida jede Nacht in ihr Kopfkissen beißt, bis die Bissspuren beweisen, dass ich nicht mehr schreien, aber noch beißen kann, dass ich nicht mehr sprechen, aber noch atmen kann.
An den Tagen schleiche ich durch die Gänge und durch den Tag und vermeide dabei jeden Blickkontakt. Manchmal fallen mir ein paar Tränen aus den Augen und aus dem Sinn, aber weil jetzt Herbst ist und es meistens regnet, interessiert das so wenig wie die Tatsache, dass ich die meiste Zeit gar nicht weine, sondern nur den Kopf in den Regen halte. Bei diesen langen Spaziergängen versuche ich herauszufinden, wann die Verbindung zwischen mir und den anderen, zwischen mir und der Welt durchtrennt wurde, wie die Nabelschnur, die einmal meinen Geist mit der Realität verbunden hatte und die durchgeschnitten wurde, als ich das erste Mal auf dieser Brücke in K. stand, an deren Ende ein Schriftzug aus großen metallenen Lettern angebracht war, der sagte: Liebe deine Stadt. Und ich nur keinen Zentimeter weiter an die Brüstung, an das Geländer gehen konnte, weil ich nicht mit dieser Aussicht springen konnte, weil ich nicht springen konnte in dieser hässlichsten aller Städte.
Vielleicht ist sie aber auch durchtrennt worden, als ich neben mir im Zimmer einen lauten Schrei hörte, hinübereilte und Maximilian sah, den Mann, mit dem ich kurz zuvor noch das Bett und dann Worte geteilt hatte, die zu einem unserer zahlreichen Streite geführt hatten. Als ich sah, wie er sich wand und weinte, und hörte, wie er sagte, es ginge nicht mehr. Als er dann aufstand und duschen ging und ich vor der Tür stand und klopfte und er rief: Reich mir ein Handtuch, ach so, und das eben war ernst gemeint. Ich bin auf die Straße gelaufen mit all meinem Gepäck, saß vor der Haustür und habe geweint, mitten in dieser Großstadt, während die Passanten an mir vorübereilten und vor mir die Leuchtreklame eines Bordells blinkte, ein riesiges LOVE und daneben eine Anzeige für Partnervermittlungen. Vielleicht habe ich in diesem Moment vergessen, wie es ist, etwas auszuhalten, etwas mitteilen zu können, mit fremden Menschen zu sprechen oder mit bekannten. Denn das allein, das ganz allein ist es, was wir meinen, wenn wir von Vertrauen sprechen.
Im Grunde gab es zahlreiche Momente und Augenblicke, die so schnell wie ein Kamerablitz passierten und die nichts hätten verändern müssen und die trotzdem alles geändert haben. Manchmal schaffst du es, dir Laufschuhe zu basteln, die schnell genug sind, um vor diesen Blitzen und Einschlägen davonzulaufen. Du blickst dich noch vorsichtig um, aber eigentlich weißt du schon, dass du überleben wirst, dass du es geschafft hast, dass du nur noch ein bisschen weiterrennen musst. An der nächsten Kreuzung links abbiegen bitte, nach 100 Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht.
Manchmal
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