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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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Diagnosen, du bist nichtdeine Pathologie. Du bist ein Mensch, so absurd das klingen mag, herzlichen Glückwunsch: Sie sind ein Homo sapiens, ganz und gar.«
    Vielleicht mag das ja stimmen, denke ich einen Moment lang, wie man manchmal im Kino oder vor einem Fernsehfilm geneigt ist, dem Gedanken nachzuhängen, dass man im Grunde, in Wirklichkeit ja so viel mehr sein könnte. In der Art » der andere, der mir da in dem Film so ähnlich ist und dem plötzlich auch so wunderbare Dinge passieren«, in der Größeneinheit » Selbstüberschätzung«, in dem verklärten Gedanken, dass man ganz eventuell ja auch zu Größerem bestimmt ist, auch, wenn man gar nicht so genau weiß, wie groß » groß« eigentlich ist.
    » Verstehst du nicht, was ich meine?«, fragt Isabell nach und hebt die Hände. » Es ist wirklich so einfach. Wir sind hier drinnen, während die anderen da draußen sind. Das ist die Relation. Wir hier, die anderen da. Es gibt tausende dieser Relationen. Wir in der Uni, die anderen im Büro. Wir in dieser Beziehung, die anderen frisch verliebt. So teilt es sich auf, so verteilt sich alles. Aber wer hat gesagt, dass das stimmt? Wer kann mir beweisen, dass ich wirklich hierhergehöre?«
    » Du dir selbst«, antworte ich, » du dir selbst jeden Morgen.«
    » Was beweist das denn? Ich habe Probleme, einen Haufen davon. Aber die anderen doch auch. Warum steckt die Welt nicht hier drinnen und wir sind da draußen?«
    » Ach, Isabell«, sage ich genervt, » das ist doch ein alter Gedanke. Die Welt gehört ins Irrenhaus und die Irren in die Welt. Das ist aber nicht das Problem. Jeder hier ist doch gekommen, weil etwas nicht mehr stimmte. Es gibt kein Drinnen und kein Draußen. Es gibt nicht einmal ein Wir und ein Ihr. Es gibt nur Ich.«
    Ihr Gesicht verrät Erstaunen und Enttäuschung. Es ist das Gesicht eines kleinen Mädchens, das etwas Wichtiges mitzuteilen hatte und feststellen muss, dass niemand versteht, was so faszinierend an den weißen Flecken am Himmel ist. Ein Mädchen, das gleich weinen wird und quengeln und sich beschweren, dass der Arm, der sonst immer so schön getragen hat, plötzlich schlaff herunterhängt.
    » Du verstehst den Punkt nicht, auf den ich hinauswollte«, beschwert sie sich.
    Den verstünde ich sehr gut, beteuere ich, jedoch sei all das vage und unkonkret, wenn es darum ging, eine realistische Einschätzung der eigenen Situation vorzunehmen.
    Sie lacht. Lacht ein lautes und ein höhnisches Lachen. » Eine realistische Selbsteinschätzung? Was ist denn Realität, und was bist du selbst? Und wie sieht die Realität deines Selbst aus? Und wird nicht alles, was du sieht und hörst und spürst und denkst von diesem gleichen Gehirn gesteuert wie all das, von dem sie sagen, dass es krank und andersartig sei?«
    Ich schweige und höre noch immer den Hall ihres Lachens.
    » Lassen wir das«, sagt Isabell nun und schüttelt sich.
    Es vergehen ein paar Minuten des Schweigens, in denen sie mich ab und an vorwurfsvoll anblickt.
    » Was?«, frage ich schließlich genervt, und mit einem Mal verändert sich ihr Gesicht, wird so plötzlich wieder weich und offen, wie es eben noch kämpferisch und zornig wurde, und sie steht auf und setzt sich auf mein Bett.
    » Ida, weißt du, ich hatte nie eine so gute Freundin wie dich«, sagt sie und streichelt mir über den Rücken, eine Geste, die vertraulich wirken soll, aber in ihrer Gänze befremdlich bleibt.
    » Isabell, wir kennen uns doch kaum«, sage ich vorsichtig und bewege mich keinen Millimeter.
    » Doch, wir kennen uns sehr gut, wir sind quasi Seelenverwandte, du und ich. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, dem ich so schnell so sehr vertraut habe. Das ist doch sehr schön!«, sagt sie und drückt jetzt wie zum Beweis meine Hand.
    Ihre üblichen Stimmungsschwankungen und ihre Neigung, sich in Minuten von einem Pol des Emotionsspektrums zum anderen zu bewegen, sind mir, nach diesen wenigen Tagen, bereits vertraut. Aber diese Aussagen haben eine neue Qualität, überspannen einen Bogen, der sich genau zwischen den Polen befindet, so sehr, dass es mir beinahe wie eine Farce, wie ein Witz vorkommt. Wir sitzen hier auf diesem Bett und sprechen über Freundschaft und Nähe, wo eigentlich nur ein paar Tage und ein bisschen gegenseitiges Verständnis liegen können, wo eigentlich eher Höflichkeit denn übertriebene Freundschaftsbekundung angebracht wäre. Ich entziehe meine Hand ihrer Umklammerung.
    » Isabell, ich komme mir merkwürdig bei dem Satz vor,

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