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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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ziehst du dir aber gerade diese Laufschuhe an, Schuhe, die gefüttert sind mit guten Momenten und Schlagfertigkeit, gerade schnürst du die Schuhsenkel, gerade willst du loslaufen, und da ist es schon passiert, das Ereignis war viel schneller da als du, und jetzt rennst du, du rennst um dein Leben, aber alles ist schon passiert, alles brennt schon, und deine Sohlen bleiben am Asphalt kleben, und du fällst hin, und eine Stimme wiederholt immer und immer wieder: Wenn möglich, bitte wenden.
    Es ist ja nicht so, als wäre ich nie mitgerannt, als hätte ich diesen Marathon, den man Leben nennt, nicht bisweilen so freimütig und elegant gelaufen, dass ich gar nicht auffiel in der Masse der anderen, die vereinzelt schon nach Luft rangen, während ich lief und lief und alles trank, was man mir am Wegrand reichte, so groß war mein Durst, mein Durst nach allem. Es ist ja nicht so, als wäre Selbstmitleid, als wären ständige Selbstbezichtigung und Selbstgeißelung der Weg gewesen, den ich einzuschlagen versucht habe. So war das nicht, ich schwöre.
    Als ich zur Grundschule ging, war da dieser Lehrer, mein Klassenlehrer, Herr Friemer, der uns alle sehr liebte, der uns allen immer beistand, der uns förderte und half. Uns allen minus mir. Herr Friemer hielt mich für etwas, das ausgespuckt war aus einer Hölle, etwas, das Verderben und Unglück bringen würde. Er übersah, wenn ich meinen Finger hob, und missbilligte die meisten meiner Antworten, wenn er aus Mangel an anderen Wortmeldungen doch einmal mich anhören musste. Den Eltern der anderen Kinder empfahl er, ihre Sprösslinge von mir fernzuhalten, ich sei unkontrollierbar, unbedingt unerzogen und im Übrigen frühreif, und die Kinder trugen diese Worte zu mir zurück. Ich wusste damals nicht, was das ist, frühreif, und schlug es im Lexikon nach. Ich verstand nichts. Also nahm ich an, dass frühreif bedeutete, dass ich früher erwachsen werden würde und dass ich also früher von Herrn Friemer, dieser Schule und den Kindern, die dem Verbot der Eltern, mir zu nahe zu kommen, folgten, wegkommen würde. Ich war sehr froh an diesem Tag und erzählte meinen Eltern, dass ich also jetzt bald schon auf das Gymnasium wechseln könne, jetzt, wo ich bald schon reif sei. Ich war in der zweiten Klasse, als Herr Friemer seinen Krieg gegen mich und meine Frühreife begann, und ich war verliebt in ihn, weil ich davon überzeugt war, dass er am Ende erkennen würde, wie sehr ich mich anstrengte und wie sehr ich alles dafür tat, von ihm gemocht zu werden. Am Ende der vierten Klasse verbrachte ich die zweiten Sommerferien in Folge alleine, denn die anderen Kinder folgten noch immer Friemers Rat, und ich hatte alles Vertrauen in die Liebe zwischen Herrn Friemer und mir verloren und den Rest auch.
    Vielleicht war das der erste Punkt, der erste Knoten, der das Netz über mich legte, der das Unaussprechliche in mein Leben brachte und der den Anfang gemacht hatte zu einer Decke aus Schwere und Irritation, zu einem Leben, das sich nie leicht, aber noch tragbar anfühlte.
    All die Jahre nach Friemer waren Jahre, in denen das Unaussprechliche sich schon gesetzt, aber noch nicht gezeigt hatte. Zu sehr war ich damit beschäftigt, an alles zu glauben, das ich wollte, das ich so unbedingt wollte, dass ich nicht davon abließ. Freunde, gute Noten, auf die Geburtstage der beliebteren Kinder eingeladen zu werden, das Gefühl, dass die Schwerkraft etwas ist, das einen am Boden hält, und nicht etwas, das einen auf selbigen niederdrückt, und Freunde. Freunde. Freunde.
    Nach Friemer, eine Zeitrechnung, die meinem Leben einen neuen Ausgangspunkt gegeben hatte. Nach Friemer jedenfalls war ich viele Jahre auf der Suche gewesen nach etwas, das heilte und verband, das trug, was ich nicht tragen konnte, das Sicherheit gab. Ich trank in den Parks mit den anderen, auch wenn ich meistens gar nicht wusste, wer die anderen waren. Ich kaufte mir ihre Anziehsachen, ich kaufte mir ihre CD s und ihre Kinokarten, ich kaufte mir ihre Freundschaft in den Cafés der Stadt, mit Worten und Geschichten, mit Dramatisierungen und wildem Aufbegehren, ich kaufte mir alles, was ich glaubte zu benötigen, um unter ihnen zu sein, um dabei zu sein, um dazwischen zu stehen, wenn sie von all diesen Dingen sprachen, die ich erst so viele Jahre später erleben sollte.
    Sie sprachen vom Küssen und von Parfum, von Sportlern und von Lippen und Händen und Liebe, sie sprachen immerzu von Liebe. Ich sprach auch davon, auch wenn ich meistens

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