Drüberleben
was auch fantastisch war. Alles in allem ein wirklich gelungenes Mahl.«
» Wie schön zu hören, Simon. Es ist toll, wenn es dir gut geht.«
» Ja, nicht wahr, Ida? Sag mal, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte: Warum bist du eigentlich hier?«
Ich lache auf und verschlucke mich dabei beinahe an dem Kamillentee. » Auch das gehört zu den Dingen, von denen ich für heute genug habe. Diese Frage.«
» Wie gut, dass es zwanzig vor eins ist und damit ja genaugenommen ein neuer Tag. Heute bin ich also vermutlich der Erste, der dir diese Frage stellt und dringlich auf Beantwortung derselben hofft.«
» Gut. Ein unschlagbares Argument. Ich bin hier, weil ich Depressionen und Panikattacken habe. Da du als Nächstes sagen wirst, dass das doch jeder hier hat, werde ich also schon vorab erklären, dass ich nur ein Mädchen bin, das sein Leben nicht auf die Reihe kriegt und deshalb immer wieder in Kliniken landet, in denen alle ein wenig ratlos sind. Ich bin nicht vergewaltigt worden, ich habe keinen Menschen umgebracht, ich bin nicht mit achtzehn schwanger geworden, und meine Eltern leben auch beide noch. Ich bin nur über ein paar Dinge nicht hinweggekommen, aber wer schafft das schon immer? Und wer braucht schon wirklich ausschlaggebende Gründe, um hier zu landen? Die meisten haben unschöne, manchmal sogar grausame Dinge erlebt, aber das haben tausend andere auch. Und die sind trotzdem nicht in der Psychiatrie. Es muss also so sein, dass einige Menschen eben krank werden und andere unter den gleichen Bedingungen nicht. Und ich gehöre wohl zu den Ersteren.«
» Ah«, sagt er bloß und lehnt sich zurück.
» Und du, Simon, wie sieht deine Anamnese so aus?«
» Das geht dich überhaupt nichts an«, faucht er, und ich schrecke zurück. » Das geht dich so was von nichts an.«
» Ah«, sage ich dieses Mal und lächle.
» Warum lachst du jetzt?«, fragt er wütend und haut plötzlich mit der Faust auf den Tisch. Ich werfe erschrocken einen Blick zur Tür, um abzuschätzen, wie schnell ich es dorthin schaffe, und frage mich, ob die Nachtschwester durch den Lärm aufmerksam geworden ist.
» Ich weiß schon, dass mich hier alle für einen Wichser halten. In euren kleinen, in Selbstmitleid getränkten Gehirnen könnt ihr euch wahrscheinlich einfach nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die nicht alles von sich erzählen wollen. Die vielleicht schlimmere Dinge als die Scheidung von Mama und Papa erlebt haben. Und die darüber nicht an verdammten Küchentischen in verdammten WG s sprechen möchten, wie ihr es andauernd tut. Laber, laber, laber. Ihr kriegt doch schon Depressionen, wenn der Typ euch nicht zurückruft. Oder wenn Papi den Geldhahn zudreht, weil ihr im achtzehnten Semester immer noch nicht wisst, was ihr beruflich machen wollt. Und ständig quatscht ihr von Selbstfindung. Als hättet ihr nicht schon einen Platz: den in der beschissenen Sonne, im Glanze eurer ekelhaften Selbstgefälligkeit, verdammt!«
Die Tür öffnet sich, und herein kommt endlich Schwester Blohm, die uns zur Ruhe anhält. » Alles in Ordnung?«, fragt sie noch mit einem Blick auf Simon.
» Ja, alles super«, knurrt dieser, und Frau Blohm schließt skeptisch wieder die Tür.
» Du bist beeindruckend wütend«, fasse ich seinen Ausbruch ungerührt zusammen.
Er schweigt, steht auf und wirft den Stuhl mehr, als er ihn schiebt, an den Tisch.
» Ihr seid alle gleich, Ida, ihr und eure Kinderprobleme.«
» Das ist so lächerlich überheblich, dass ich darauf nicht antworten werde«, sage ich ruhig und warte, bis er an mir vorübergeht.
Doch er bleibt überraschend stehen, beugt sich hinunter und flüstert in mein Haar: » Schade, ich hätte mehr von dir erwartet.«
Ich drehe mich abrupt um, und für einen Moment blicken wir uns direkt in die Augen und in die Köpfe. » Was denn, du selbstverliebtes Arschloch?«
Er lacht: » Das geht schon in die richtige Richtung«, und verlässt den Raum. Als die Tür hinter ihm zufällt, zucke ich für einen Moment zusammen und drehe mich um. Er steht vor der Glastür und betrachtet mich nachdenklich, lächelt dann und geht fort.
Ich bleibe allein im Essensraum zurück mit einer Tasse voll kaltem Tee und einem Kopf voll kalter Gedanken.
Ich denke daran, wie traurig, wie himmelhoch traurig ich bin. So traurig, dass ich seit einer Ewigkeit schon den ganzen Tag nur die Wand anstarre oder die Augen schließe und versuche, flach zu atmen, das Monster zum Schweigen zu bringen. Ich will
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