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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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und dass man damit etwas anderes anstellen kann, als sich Tränen wegzuwischen, Taschentücher zu suchen und Zigaretten zu halten. Eine Beschäftigungstherapie, die Beschäftigung lehren soll, die Beschäftigung mit sich und gegen die Langeweile, diese zornige, träge Langeweile, die uns überfällt in jenen Momenten, in denen im Inneren Disko und Destruktivität herrscht.
    Richard bastelt unermüdlich Sterne, die er im Flur und in den Gruppenräumen verteilt, verschenkt, an die Fenster klebt oder einfach wieder wegschmeißt, wenn sie ihm nicht perfekt genug sind. Simon, Isabell und ich sind die einzigen, die sich weigern, an der Ergotherapie teilzunehmen, und daher in dieser Zeit unsere Einzeltherapiestunden haben. Und während die anderen mit Pappmascheegebilden, Sternen und Aquarellbildern aus dem Keller, in dem der Ergotherapieraum liegt, wieder auf die Station stolpern, fallen wir aus den Räumen unserer Therapeuten wieder nach draußen, in dieses Draußen, das immerzu Drinnen ist.
    Immer seltener gehe ich in den Park oder laufe über das Gelände, und immer mehr gewöhne ich mich an die Welt, die immer beheizt und belichtet ist, deren Flure und Gruppenräume zu draußen und deren Zimmer zu drinnen werden. Im Grunde müsste niemand die Station jemals verlassen, denn es gibt pünktlich Essen, pünktlich Medikamente und immer irgendjemanden, der gerade Kaffee gekocht hat. Hinter den Fenstern sehen wir dem Winter zu, wie er um die Häuserecken schleicht und Frost und kahle Bäume mitbringt, während wir drinnen die Luft anhalten und versuchen, nicht daran zu denken, dass wir irgendwann wieder in den Schnee stapfen müssen, aus dem wir gekommen sind.

STEIGEN

Drüberleben
    E in Mensch ist bei seiner Geburt kein weißes Blatt Papier. Wir haben bereits ein Geschlecht, haben Gene und Informationen in uns, die schon ihre Wirkung entfalten, noch bevor wir den ersten Schrei von uns geben. Wir haben einen Charakter, wir sind gesund oder krank, wir haben Veranlagungen. All diese Dinge stehen schon auf dem Papier, das wir bis zum Ende unseres Lebens beschreiben werden. Vielleicht sind diese Dinge auch das Papier, und wir werden im Laufe der Jahre nur noch den Stift wählen müssen, mit dem wir das Leben auf uns schreiben lassen.
    Die Sprache ist mein einziges Instrument, um aus den vagen Bildern und Eindrücken, die ich Erinnerung nenne, eine Geschichte zu formulieren, sie chronologisch zu ordnen, Teile aus ihr herauszunehmen, sie neu zu gestalten. Sprache und Worte sind die Teller, auf die ich meine Eindrücke anordnen kann, um sie einem Außen verständlich zu machen. Erst durch sie kann ich– auf zahlreiche Weisen– meinen Erinnerungen, meiner Biographie Ausdruck verleihen.
    Was bleibt, ist die Frage nach den Zwangsläufigkeiten. Existieren sie überhaupt, die Zwangsläufigkeiten, die auch als » Schicksal« bezeichnet werden? Gab es keinen anderen Weg, keine anderen Möglichkeiten für Ida Schaumann, als zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens in einer Psychiatrie zu sein? Hätte ich nicht auch eine Ausbildung machen, einen Mann heiraten und in einem kleinen Dorf leben können– glücklich und entspannt? Waren mir diese Möglichkeiten schon immer verwehrt geblieben, weil sich deterministisch alles in die Diktatur meiner Gene, meiner ersten Erfahrungen und der Umstände fügen musste?
    Simon war zwischen Fliesentisch und Hass aufgewachsen. Die Person, die er Vater nannte, war in einem Rhythmus von zwei Jahren von seiner Mutter ausgetauscht worden. Irgendwann war » Vater« einfach der Mann, dessen Bartstoppeln gerade im Waschbecken lagen. Und irgendwann kam einer, der zuschlug, wenn ihm etwas nicht gefiel. Und es hatten ihm viele Dinge nicht gefallen. Am wenigsten Simons Anwesenheit, und so war der letzte » Vater« jener, der auch in Simons Träumen auftauchte. Ein großer Mann, einem Tier ähnlich, der immer das gleiche Holzfällerhemd zu tragen schien und sich, bevor er Simon mit dem Gürtel, einer Bierflasche oder einem anderen sich gerade in der Nähe befindlichen Gegenstand » erzog«, nachdenklich an seinem ungepflegten Vollbart kratzte– gerade so, als müsse er sich die kurz darauf folgende Handlung genau überlegen (was er niemals tat).
    Simon war irgendwann geflohen, in eine andere Stadt, in ein anderes Leben. Was er mitgenommen hatte, waren die Erinnerungen, seine Biographie, und die Überzeugung, dass er, um nur die geringste Chance auf ein Leben außerhalb von Schlägen und vom Verharren in Verstecken zu

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