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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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dass ich mich genug anstrenge, die Erinnerungen in eine Folge zu bringen, die sie mich besser verstehen lässt, die mir bewusst werden lässt, warum ich handle, wie ich handle, warum ich denke, wie ich denke.
    Ich muss an den Ort zurück, an dem alles begann. Ich muss wissen, warum ich zu dem Menschen geworden bin, den ich jeden Tag anziehe, lernen lasse, leben lasse. Ich muss nach Hause.

Sechsundzwanzig
    D er Zug geht um 16:43 Uhr, die Augenringe gehen bis zu den Mundwinkeln. Es wird schon gut gehen, es wird schon klappen. In der Nacht zuvor habe ich kaum geschlafen– Isabell hatte sich unruhig in ihrem Bett hin und her gewälzt. Erst in den frühen Morgenstunden war ich in einen traumgetränkten Schlaf gefallen, der wenig erholsam gewesen war.
    Heute ist der Tag, an dem ich zum ersten Mal die Klinik für eine Übernachtung auswärts verlassen darf, und Frau Wängler hat beschlossen, dass es an der Zeit sei, sich dem zu stellen, das mich am meisten ängstigt: der Fahrt zu meinen Eltern, zurück in die Kleinstadt, zu den Bushaltestellen und Gesichtern, die ich so sehr vergessen wollte wie den Gedanken daran, dass es unausweichlich war, sich ihnen– irgendwann– zu stellen.
    Ich hatte Peer und Sebastian angerufen und ihnen mitgeteilt, dass ich zurückkäme, nein, bloß für eine Nacht, ja, man müsste sich treffen, ja, wie schön das wäre, wir sehen uns auf jeden Fall und bis dann, hach, wie früher, Ida, das wird toll. Ich log bei jedem Satz, bei jedem Wort, und das beklemmende Gefühl im Magen, das mir signalisierte, dass es keineswegs Vorfreude war oder ein Vermissen, das mich antrieb, sondern bloßer, stechender Zwang, bohrte sich in jede Halbwahrheit.
    Auf dem Bahnsteig steht eine unüberschaubar große Menge Menschen, die teilweise nur eine Tasche oder einen kleinen Rucksack bei sich haben, und ich kann nicht umhin daran zu denken, dass diese Frauen und Männer vermutlich Pendler sind und beinahe täglich in die Stadt fahren, in die wiederzukehren mir wie eine Weltreise erscheint.
    Endlich fährt der Zug ein, und ich setze mich an einen Platz am Fenster, während sich ein älterer Herr zunächst an der schmalen Gepäckablage zu schaffen macht, um sich schließlich auf den Sitz neben mir fallen zu lassen.
    Er faltet eine Zeitung auseinander und beginnt noch vor Abfahrt der Bahn zu lesen, seufzt ab und an, schiebt seine Brille wieder die lange Nase hinauf und schweigt zu meinem Glück zunächst.
    Die Fahrt dauert dreiundfünfzig Minuten, die sich qualvoll lang hinziehen. Der Geruch von Seife und altem Leder strömt zu mir hinüber, der alte Mann wechselt mehrfach seine Sitzposition, scheinbar auf der Suche nach einer Lösung, deren Problem beinahe unlösbar ist: Das bequeme Sitzen in Regionalzügen ist eine Aufgabe, die wohl noch niemand adäquat zu lösen wusste.
    Schließlich stöhnt er auf und reibt sich den Rücken: » Sehr unbequem, diese Sitze, nicht wahr?«
    Ich nicke.
    » Ich reise eigentlich nicht sehr häufig, aber jedes Mal staune ich erneut über die Härte der Sitzgelegenheiten.«
    » Vielleicht sollten Sie noch seltener reisen«, versuche ich einen Scherz, und er lächelt milde und antwortet: » Das kann man sich ja nicht immer aussuchen, nicht wahr, Fräulein? Aber Sie reisen bestimmt sehr häufig, nicht, da gewöhnt man sich an alles, da macht einem das nicht mehr so viel aus.«
    » Ich reise eigentlich kaum«, gebe ich karg von mir.
    » Wie schade, in Ihrem Alter hätte ich gerne solche Möglichkeiten gehabt, heutzutage kann man ja fast überall mit dem Zug hin«, spricht er ungerührt weiter. » Sagen Sie, Fräulein, und entschuldigen Sie, wenn diese Frage zu weit führt, aber: Wohin reisen Sie denn?«
    » Ich besuche Freunde aus der Schulzeit.«
    » Ach, wie schön, das sind doch immer recht schöne Anlässe, solche Wiedersehen, das hat sich in meinem Alter ja fast erübrigt, da sterben sie alle schon, nicht, da kann jeder froh sein, wenn er noch ein, zwei Freunde hat, die leben.«
    Ein, zwei Freunde, die leben. Ich habe überhaupt nur ein, zwei Freunde. Und selbst die stammen aus einer Freundschaft, die lange vergangen ist und die nur noch aus den Erinnerungen an sich selbst besteht.
    » Wissen Sie«, fährt er fort, » Freunde sind ein kostbares Gut, das muss man behüten wie einen Schatz – damit sie bleiben.«
    Am Fenster rauschen Wälder und Wiesen, Felder und kleine Dörfer vorüber. Es ist kalt im Zug, die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Wie lange bin ich nicht mehr in diese

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