Drüberleben
Stadt gefahren, in diese Stadt mit ihren sechstausend Einwohnern– gerade genug, nicht Dorf genannt zu werden. Diese Stadt, in der ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte, um sie dann mit einem Rucksack und allem Erspartem, das ich auf dem Konto vorfand, zu verlassen.
Meine wenigen Besuche glichen eher einem Verstecken, bei dem es einzig darum ging, meinen Eltern zu beweisen, dass ich lebte, um gleich am nächsten Tag wieder zu verschwinden. Nie hatte ich mich mit Freunden, mit alten Bekannten getroffen, nicht einmal mit Peer oder Sebastian.
Doch jetzt ist es an der Zeit aufzuräumen, es ist an der Zeit, mich an diesen Ort zurückzubegeben, der mich ebenso gemieden hat wie ich ihn. Ich bin des Davonlaufens müde und überdrüssig, habe mir eine Kampfmonitur aus Jahren des Abstands und des Reifens angezogen und bin bereit, mich dieser Schlacht zu stellen– auch wenn ich keine Ahnung habe, wer eigentlich auf der anderen Seite des Schlachtfeldes steht.
Am Bahnsteig erwarten mich meine beiden Brüder, die beide noch oder wieder in der Stadt wohnten. Der eine hatte eine Lehre bei einem Tischlermeister angefangen, der andere sein Studium abgebrochen und war zurückgekehrt. Sie nehmen mein Gepäck und verstauen es im Kofferraum, um mich sodann mit Fragen zu drangsalieren, deren Banalität in beängstigendem Widerspruch zu dem Gefühl des Erstickens steht, das sich in meiner Kehle breitmacht. Wie es mir gehe. Sie hätten ja gehört, dass. Schon wieder, Ida, echt schon wieder. Und was ist mit dem Studium. Und was passiert danach. Und weißt du eigentlich, dass.
Wir fahren eine Viertelstunde, bis wir das Haus unserer Eltern erreichen, das am Rand der Stadt liegt. Mein Vater kommt schon aus der Tür heraus, bevor ich die Tasche aus dem Kofferraum ziehen kann, und begrüßt mich herzlich. Mutter habe gekocht.
Nach dem Essen gehe ich zwei Treppen hinauf, um in mein altes Zimmer zu gelangen. Es liegt im ersten Stock des Hauses, zur Straße hinaus gelegen. Die Tür ist verschlossen, und einen Augenblick erstarre ich vor ihr in dem Versuch mich darauf vorzubereiten, dieses Zimmer zu betreten, dieses Zimmer, das mich jedes Mal erneut mit einem Schwall von Erinnerungen teert und mit einem Schmerz im Magen federt, der kaum auszuhalten ist. Endlich drücke ich die Türklinke hinunter und sehe als Erstes: Es hat sich noch immer nichts verändert. Die Gardinen sind noch die gleichen, die ich auch schon als Kind zur Seite schob, um den Nachbarskindern auf der Straße bei ihren Spielen zuzusehen. Der alte Teppich auf den Dielen ist von all meinen rastlosen Gängen ausgeblichen und verfranst, das Bett steht noch immer in der linken Ecke am Fenster. Der alte Eichenschrank mit der Kleidung, die ich damals zurückließ, dient meiner Mutter nun als Abstellmöglichkeit für ihr Näh- und Strickzeug, und auf der Fensterbank steht ein Strauß Blumen, den sie für mich dorthin gestellt hat. Ich gehe ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein und versuche, mich an das Gefühl zu gewöhnen, wieder an diesem Ort zu sein.
Ich setze mich auf das quietschende Bett und muss lächeln bei dem Gedanken, dass dieser Ort so wenig mit dem Ort zu tun hat, an dem ich nun meine Zeit verbringe, jedoch ausgerechnet das Quietschen des Bettes eine Art zartes Heimweh nach der Klinik hervorruft. Die Matratze gibt meinem Körpergewicht so sehr nach, dass ihr Alter unbestreitbar ist, und auch die vergilbten Bilder an den Wänden sind Zeitzeugen eines Prozesses, der nun vier Jahre gedauert hat. Und plötzlich kommen mir die Tränen, und ich liege leise schluchzend auf diesem Bett, das mich so viele Jahre getragen hat.
Gehofft hatte ich, so sehr gehofft, nie wieder hierherzukommen aus einer Klinik, die anrufen würde, wenn ich nicht am nächsten Tag zur vereinbarten Zeit zurückkehrte. Gehofft hatte ich, dass ich nie wieder Tabletten nehmen müsste, dass ich nie wieder an dem Galgen meiner Ängste hängen würde und nie wieder darüber sprechen müsste, warum und warum und warum. Gehofft hatte ich, dass ich erzählen könnte, wie gut das Studium, wie schön die Stadt, wie nett die Freunde waren. Gehofft hatte ich, dass ich etwas vorzuweisen, etwas mitzubringen, etwas darzulegen hatte. Gehofft hatte ich auf Geschichten und Erlebnisse, die von einer Ida erzählten, die heimkehrte und beeindruckte, die gerade stand und frei atmete. Stattdessen kam ich immer wieder zurück in dem Wissen darüber, dass sich zwar mein Alter, jedoch die Umstände
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